»Warum hatte er Kling nicht zu Fuß mitgeschleift?« fragte Isham.
»Weil er von Anfang an vorhatte, die Spur eines hinkenden Mannes zu legen. Indem er Kling trug und gleichzeitig hinkte, schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe und erweckte dennoch den Eindruck, nur ein Mann -Krosac -habe die Hütte betreten. Indem er die Hütte hinkend verließ, täuschte er Krosacs Flucht vor. Er machte jedoch einen Fehler: Er vergaß, daß seine Fußabdrücke in dem weichen Boden auf dem Hinweg tiefer als auf dem Rückweg ausfallen mußten.«
»Mir will das alles einfach nicht in den Schädel«, murmelte der Professor. »Der Mann muß ein Genie sein! Auch wenn seine Verbrechen noch so abartig sind -so einen Plan ersinnt nur ein extrem kluger Kopf!«
»Warum auch nicht?« fragte Ellery trocken. »Wir haben es mit einem gebildeten Mann zu tun, der die Zeit hatte, jahrelang an seinem Plan zu feilen. Aber ohne jeden Zweifel ein brillanter Kopf. Sein Genie zeigte sich allein schon darin, daß er es verstand, die Motive Krosacs auf seine eigenen abzustimmen. Nehmen wir allein die Sache mit der Pfeife, dem herumgedrehten Teppich und Brads Brief an die Polizei. Ich hatte Ihnen bereits Krosacs Grund erläutert, den wahren Tatort zu vertuschen; er mußte Zeit schinden und abwarten, bis Megara auf den Plan rückte und ihm den Weg zu Van wies, der -wie er mittlerweile wußte -noch am Leben war. Van jedoch, der sein Phantom Krosac mit denkbar einleuchtenden Gründen ausgestattet hatte, Zeit zu schinden, war selbst -als der wahre Mörder - noch viel dringender darauf angewiesen. Wenn die Polizei die Bibliothek sofort durchsucht und lange vor Megaras Rückkehr Brads Brief gefunden hätte -zu dem Van zweifellos seinen Bruder animiert hatte -, dann wäre sie zu früh darauf gekommen, daß Van noch lebte. In dieser Situation hätte ein Patzer genügt, um die Polizei auf seine Doppelidentität aufmerksam zu machen -womit er in eine äußerst prekäre Lage geraten wäre. Stellen Sie sich bloß einmal vor, Megara wäre mit seiner Jacht gekentert und nie zurückgekehrt. In diesem Fall hätte niemand mehr bezeugen können, daß Old Pete alias Van wirklich ein Bruder von Brad und Megara war. Indem er jedoch die Verzögerung einbaute, stellte er sicher, daß Megara Vans Bruderschaft nach seiner Rückkehr bestätigte. Ohne eine solche Bestätigung wäre schnell Verdacht auf ihn gefallen; mit Megara als Zeugen jedoch konnte er sich problemlos zum Unschuldslamm stilisieren.
Was aber brachte ihn überhaupt dazu, in Erscheinung zu treten? Vans Kunstgriff diente in Wahrheit nur einem Zweck: Indem er dafür sorgte, daß Brad der Polizei die Nachricht hinterließ, setzte er eine komplizierte Ereignisfolge in Gang, die es ihm schließlich ermöglichte, als anerkannter Tvar-Bruder aufzutreten und sein Erbe einzufordern. Er hätte die Polizei ja auch in dem Glauben lassen können, er wäre Krosac zum Opfer gefallen. So hätte er offiziell als tot gelten und ›Krosac‹ losschicken können, um seine beiden Brüder zu töten. Wenn er jedoch offiziell tot war -wie kam er dann an das Geld, das Brad ihn in seinem Testament vermacht hatte? Er mußte in Erscheinung treten -lebend. Und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem Megara bezeugen konnte, daß Van tatsächlich sein Bruder war. Nur so kam er gefahrlos an die fünftausend Dollar. Nichts hat er so glänzend gespielt wie diesen Part; erinnern Sie sich an die Szene, in der Megara -den ohnehin Gewissensbisse plagten -über das entsagungsvolle Leben seines ›verängstigten‹ Bruders so erschüttert war, daß er ihm die doppelte Summe anbot? Und wie Van ›bescheiden‹ ablehnte? Er wolle nur, was ihm zustehe, sagte er ... Was für ein Schlitzohr! Auf das zusätzliche Geld verzichtete er, um den weltabgewandten Sonderling um so glaubhafter verkörpern zu können! Doch das war noch nicht alles. Indem er im Beisein Megaras seine Geschichte erzählte, bereitete er seine eigene Ermordung vor; die Polizei ›wußte‹ nun, daß der wahnsinnige Rächer, der nicht ruhen würde, bis alle Tvars unter der Erde waren, herausgefunden hatte, daß er den Falschen erwischt hatte und Van noch lebte. Teuflisch clever!«
»Mir zu hoch«, brummte Vaughn kopfschüttelnd.
»Und mit so etwas muß ich mich herumschlagen, seit ich Vater bin!« murmelte Inspector Queen. Er seufzte leise und schaute mit entrückter Miene aus dem Fenster.
Professor Yardley konnte sein Ego nicht damit trösten, Erzeuger solchen Scharfsinns zu sein; und schien demzufolge nicht die geringsten Glücksgefühle zu empfinden. Mürrisch zupfte er an seinem Spitzbart. »Angenommen, alles war genau so, wie Sie sagen«, grummelte er schließlich. »Wie Sie wissen, habe ich mein Leben damit verbracht, knifflige Rätsel zu lösen, wenn auch, wie ich einräumen muß, vorwiegend historische. Ein weiteres Zeugnis menschlicher Genialität erstaunt mich daher keinesfalls. Eines allerdings erstaunt mich doch ... Wie Sie soeben ausführten, soll Andreja Tvar, leiblicher Bruder von Stefan und Tomislav Tvar, über Jahre hinweg minuziös geplant haben, selbige Brüder umzubringen. Aber warum? In Gottes Namen - warum?«
»Ich glaube, ich weiß, was Ihnen aufstößt«, erwiderte Ellery nachdenklich. »Der besonders abscheuliche Charakter der Verbrechen und das, was er impliziert. Aber auch diese Frage läßt sich beantworten, ohne ein Motiv zu bemühen. Zweierlei können wir als gegeben betrachten: Erstens mußte Andreja Tvar, sofern sein Plan gelingen sollte, einige höchst unangenehme Tätigkeiten verrichten -vier Menschen (unter anderem seinen Brüdern) den Kopf abschlagen; tote Hände und Füße an behelfsmäßige Kreuze nageln, ungewöhnlich viel Blut vergießen ... Zweitens muß Andreja Tvar von einem Wahn befallen sein; selbst wenn er normal war, als er den Plan erdachte -er war krank, als er ihn zur Ausführung brachte. Ein Wahnsinniger, der Unmengen von Blut verspritzt -auch das seiner eigenen Brüder.« Ellery sah Yardley direkt in die Augen. »Worin liegt der Unterschied? Warum sollte Van nicht genauso verrückt sein wie unser imaginärer Krosac? Der kleine, aber feine Unterschied besteht offenbar darin, daß er anstelle von Erzfeinden seine eigenen Brüder getötet und grausam verstümmelt hat. Aber selbst Sie werden schon von Männern gehört oder gelesen haben, die ihre Frauen verbrennen, von Schwestern, die ihre Brüder zu Hackfleisch verarbeiten, von Söhnen, die ihren Müttern den Schädel zertrümmern; von Inzest und allerlei sonstigen Verbrechen, die innerhalb der Familie geschehen. Unsereiner mag so etwas kaum glauben wollen aber fragen Sie nur meinen Vater oder Inspector Vaughn; Ihnen werden die Haare zu Berge stehen, wenn Sie zu hören bekommen, zu welchen Wahnsinnstaten Menschen imstande sind!«
»Konzediere«, erwiderte Yardley. »Solch viehische Auswüchse lassen sich sicher mit verdrängtem Sadismus erklären. Aber das Motiv, mein Junge, das Motiv! Woher wollen Sie denn Vans Motiv kennen, wenn Sie bis zum vierten Mord Velja Krosac für den Täter gehalten haben?«
»Einfache Anwort: Ich kenne sein Motiv bis heute nicht. Aber was macht das schon? Das Motiv eines Wahnsinnigen kann so abwegig oder pervers sein, daß es sich aller Logik