König Johann seufzte und beobachtete mürrisch, wie sein Atem in der frostigen Luft dampfte. Er wickelte sich enger in seinen Umhang und rückte den Sessel etwas näher an das schwach glimmende Feuer. Selbst in seinen Privatgemächern tief im Innern der Burg konnte er der bitteren Kälte des Dunkelwaldes offenbar nicht entrinnen. Er warf einen nachdenklichen Blick auf den Großen Zauberer, der auf der anderen Seite des Kamins Platz genommen hatte. Der Magier lümmelte wie ein Bauer in seinem Lehnstuhl und nagte an einem Hühnerbein. Die Kälte schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
Lampen und Kerzen nahmen jedes freie Fleckchen des überladenen Zimmers ein, und doch wirkte der Raum insgesamt eher düster. In der Vergangenheit hatte der König stets Kraft und Trost aus den alten Mauern gezogen, die ihn Schicht um Schicht einhüllten, Kraft und Trost aus der Magie und den Mysterien der Waldburg, die sein Erbe und seine angestammte Heimat war. Seit zwölf Generationen hatten seine Vorfahren das Waldkönigreich gegen alle Gefahren verteidigt, und Johann war immer davon überzeugt gewesen, dass etwas von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit in der Burg selbst fortlebte. Aber nun war die lange Nacht angebrochen, und all die Magie der ehrwürdigen Gemäuer hatte nicht ausgereicht, um den Dunkelwald fern zu halten. Der König zog gereizt die Stirn kraus; eine wahrhaft schlimme Zeit, wenn ein Mensch nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden Trost und Frieden fand. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge, als ihm die Kleinlichkeit seiner Gedanken zu Bewusstsein kam, und er schob sie entschlossen beiseite. Wieder musterte er den Großen Zauberer, und nicht alle Erinnerungen, die ihm dabei durch den Kopf gingen, waren schlecht. Obwohl er und der Zauberer nie enge Freunde gewesen waren, hatten sie doch viele Jahre gut zusammengearbeitet. Eine Zeit lang hatte er den Magier sogar als seinen starken rechten Arm betrachtet, aber das lag weit zurück. Das lag so weit zurück.
Der Zauberer löste die letzten Fleischfasern von dem Hühnerbein, und noch während der König ihn beobachtete, zerbrach er den Knochen und saugte das Mark aus, wie ein Kind, das an einer Zuckerstange lutscht. Als er fertig war, warf er den Knochen ins Feuer und wischte sich die fettigen Finger an seinem Gewand ab. König Johann schaute weg. Der Große Zauberer, an den er sich erinnerte, war elegant und kultiviert gewesen, fast so etwas wie ein Dandy. Stets nach der neuesten Mode gekleidet und jede Locke an ihrem Platz. Und er hatte bis zum bitteren Ende Haltung bewahrt. Nach den Worten der Tavernenwirte war er der würdevollste Säufer gewesen, den sie je gesehen hatten. Johann musste unwillkürlich lächeln, doch er wurde wieder ernst, als ihm andere Dinge in den Sinn kamen. Er schloss die Augen, und nach einer Weile verblassten die schlimmen Bilder, obwohl ein leiser Schmerz zurückblieb, wie immer. Er sah erneut den Zauberer an, der geistesabwesend ins Feuer starrte. Seine Miene war ausdruckslos, und Johann hatte keine Ahnung, woran der Mann dachte.
»Ich war nicht sicher, was ich bei unserem Wiedersehen empfände«, sagte König Johann langsam. »Hass oder Furcht oder was immer. Es ist viel Zeit vergangen, nicht wahr?«
Der Große Zauberer nickte. »Allerdings.«
»Du siehst fast genauso aus, wie ich dich in Erinnerung hatte. Du bist überhaupt nicht gealtert.«
»Transformationsmagie. Ich kann mir selbst aussuchen, wie alt ich sein möchte. Natürlich verbrennt meine restliche Lebensenergie umso schneller, je jünger ich mich mache. Ich bin inzwischen ein alter Mann, Johann, älter als du und dein Vater zusammen. Weißt du, manchmal fehlt mir Eduard. Mit ihm konnte ich reden. Du und ich, wir hatten nie viel gemeinsam.«
»Das nicht«, stimmte ihm der König zu. »Aber deine Ratschläge waren immer gut.«
»Dann hättest du sie befolgen sollen.«
»Vielleicht.«
Sie schwiegen beide, und lange Zeit mochte keiner von ihnen das Gespräch wieder aufnehmen. Das Feuer flackerte unruhig, und das Knistern der Flammen klang in der Stille unheimlich laut.
»Es war nicht nötig, mich zu verbannen, Johann«, sagte der Zauberer schließlich. »Ich hatte mich bereits selbst verbannt.«
Der König zuckte mit den Schultern. »Ich musste etwas unternehmen. Eleanor war tot, und ich musste irgendetwas unternehmen.«
»Ich habe alles Erdenkliche für sie getan, Johann.«
Der König starrte ins Feuer und schwieg.
»Was hältst du von Ruperts Plan?«, fragte der Zauberer nach einer Weile.
»Vielleicht gelingt er. Alles andere haben wir bereits versucht. Wer weiß?«
»Ich mag Rupert. Ein kluger junger Mann, wenn du mich fragst. Und mutig.«
»Ja«, sagte Johann langsam. »Das ist er wohl.«
Sie sahen einander verlegen an. Zu viele Jahre Schmerz, Zorn und angesammelte Bitterkeit lagen zwischen ihnen, und das wussten sie beide. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen; es war bereits alles gesagt. Der Große Zauberer erhob sich.
»Ich denke, es ist an der Zeit, ein paar Worte mit Thomas Grey zu wechseln. Seine magischen Kräfte haben während meiner Abwesenheit offenbar zugenommen; vielleicht kann er mich tatsächlich ein wenig unterstützen. Gute Nacht, Johann. Wir sehen uns noch, ehe wir in den Kampf ziehen.«
»Gute Nacht, Zauberer.«
Der König starrte ins Feuer und entspannte sich erst, als die Tür hinter dem Großen Zauberer ins Schloss fiel. Die Erinnerungen wollten ihn nicht loslassen, auch jetzt nicht, nach all den Jahren. Er schloss die Augen, und wieder standen er und der Zauberer gemeinsam an Eleanors Bett. Ihr Gesicht war mit einem Laken verhüllt.
Sie ist tot, Johann. Es tut mir so Leid.
Hol sie zurück ins Leben!
Das kann ich nicht, Johann.
Du bist der Große Zauberer! Hol sie zurück, verdammt noch mal!
Das kann ich nicht.
Du versuchst es doch nicht einmal.
Johann…
Du hast sie sterben lassen, weil sie deine Liebe nicht erwiderte!
Der König vergrub das Gesicht in den Händen, aber die Tränen wollten nicht kommen. Er hatte sie vor langer Zeit vergossen und besaß keine mehr. Er nahm rasch Haltung an, als sich die Tür hinter ihm öffnete, und setzte die gewohnt strenge Miene auf. Rupert und Harald traten auf ihn zu und verneigten sich ehrerbietig. Sie standen Schulter an Schulter, aber getrennt durch eine unsichtbare Wand der Kälte. König Johann lächelte müde. Er wollte seine Stiefel samt Schnallen fressen, wenn die beiden je mehr füreinander empfanden als eisige Abneigung. Rupert und Harald warteten geduldig, die Blicke auf einen Punkt irgendwo über dem Kopf des Königs gerichtet. Johann atmete tief durch. Weder Rupert noch Harald würde gefallen, was er ihnen zu sagen hatte, aber er war jetzt auf ihre volle Unterstützung angewiesen.
»Setzt euch!«, sagte er schließlich schroff. »Das Zimmer sieht ungemütlich aus, wenn ihr so herumsteht!«
Harald ließ sich sofort in den Sessel sinken, den der Zauberer eben erst freigegeben hatte, sodass sich Rupert auf die Suche nach einer zweiten Sitzgelegenheit machen musste.
Johann bewahrte mühsam Haltung, während er dem Rumpeln angeschrammter Möbel und einstürzender Büchertürme lauschte. Schließlich tauchte sein jüngerer Sohn wieder auf, der achtlos einen Lehnstuhl hinter sich herschleifte. Harald bekam einen Hustenanfall, den der König mit einem zornigen Blick erstickte. Johann drehte sich nicht um. Er wollte nicht sehen, welches Chaos Rupert wieder angerichtet hatte. Das hätte er bei seiner Gemütsverfassung nicht ertragen.
»'tschuldigung«, murmelte Rupert, während er den Lehnstuhl exakt zwischen Harald und den König platzierte.
»Schon gut«, sagte Johann höflich. »Es ist ein wenig eng hier.«
Er wartete geduldig, bis Rupert Platz genommen hatte, und zupfte dann nachdenklich an seinem Bart, weil er nicht so recht wusste, wie er anfangen sollte. Die Stille dehnte sich hin, und immer noch zögerte er. Er wusste, dass sein Vorhaben richtig und notwendig war, aber das machte es nicht leichter.