Und plötzlich hörte er leise schlurfende Schritte hinter sich.
Er fuhr herum, das Schwert in der Hand, und entdeckte den Seneschall, der am Nordeingang stand und ihn mit einem eisigen Blick bedachte. Rupert lächelte entschuldigend und schob die Waffe wieder ein.
»Tut mir Leid, Sir Seneschall!«
»Ach, auf mich müssen Sie keine Rücksicht nehmen«, meinte der Seneschall. Er kam in den Saal gehumpelt, schwer auf seinen knorrigen Gehstock gestützt. »Ich bin schließlich nur ein Lakai von vielen. Niemand nimmt Rücksicht auf mich, weshalb also sollten Sie es tun? Ich meine – schließlich bin ich nur der Mann, der im Alleingang die magische Barriere zum Südflügel fand und zerstörte. Aber hört deshalb jemand auf mich? Haltet euch vom Südflügel fern, sage ich den Leuten. Da drinnen seid ihr nicht sicher, sage ich. Aber hört jemand auf mich? Ganz im Gegenteil. Jeder macht genau das, was ihm in den Kram passt. Ich hätte längst zusammenbrechen müssen, wenn ich mir das zeitlich leisten könnte.«
»Hat Sie jemand gekränkt, Sir Seneschall?«, erkundigte sich Rupert vorsichtig.
»Ha!«, fuhr der Burgverwalter auf. »Gekränkt! Nur weil mich die halbe Leibgarde des Königs aus dem Bett gezerrt und in den Audienzsaal geschleift hat? Nur weil ich dort von einem Neandertaler mit Affenarmen und der denkbar niedrigsten Stirn erfuhr, mir sei die einmalige Ehre zuteil geworden, die Königliche Familie in den Südflügel zu geleiten, und zwar un-ver-züg-lich! Kein Bitte und kein Wenn es Ihnen recht ist!« Der Seneschall ließ müde und mutlos die Schultern hängen. Darauf verstand er sich; er hatte in jüngster Zeit viel Übung in solchen Gesten entwickelt. »Als ob es nicht reichen würde, dass ich seit der Ankunft der Flüchtlinge keine freie Minute mehr hatte. Als ob es nicht reichen würde, dass ich den lieben langen Tag durch die Korridore hetze, immer auf der Suche nach einem freien Plätzchen für alle diese Leute und immer auf die Gefahr hin, dass der König es sich im nächsten Moment wieder anders überlegt! Nein, jetzt verlangt er auch noch, dass ich ihn zum Arsenal bringe, zu einer Zeit, da jeder halbwegs vernünftige Mensch tief und fest schläft!
Der alte Herr wird senil, wenn Sie mich fragen! Als Nächstes braucht er jemanden, der ihn zum Abort führt!«
Rupert hörte sich das Geschimpfe des Seneschalls an und grinste breit. Es gab also noch ein paar Dinge, die sich während seiner langen Abwesenheit nicht geändert hatten.
Allmählich verrauchte der Zorn des Burgverwalters, und Rupert fand Gelegenheit, seinen Wortschwall mit einer Frage zu unterbrechen. »Was ist eigentlich mit Ihrem Bein passiert, Sir?«
»Mein Bein?« Der Seneschall starrte ihn verständnislos an und betrachtete dann den dicken Eichenknüppel, auf den er sich stützte. »Ach das. Julia und ich stießen auf ein paar Dämonen, die sich im Südflügel versteckt hatten. Keine Sorge, die sind längst erledigt.«
Er beließ es dabei, und Rupert beschloss, lieber nicht nach Einzelheiten zu fragen. Er glaubte nicht, dass er die volle Wahrheit wissen wollte.
»Ich hatte noch nicht mal Zeit, meinen eigenen Großvater zu begrüßen«, grummelte der Seneschall weiter. »Nicht dass wir uns viel zu sagen hätten, aber immerhin…«
»Ihren Großvater?«, fragte Rupert.
»Der Große Zauberer«, erklärte der Seneschall. »Muss zwanzig Jahre her sein, seit ich ihn zum letzten Mal sah.«
Rupert hörte Schritte hinter sich. Er warf einen Blick zurück und sah, wie Harald und der König die Halle betraten.
Der Seneschall rümpfte die Nase und drehte allen betont den Rücken zu. Rupert und der König wechselten einen wissenden Blick.
»Hat Sie jemand gekränkt, Sir Seneschall?«, fragte der König höflich.
»Ha!«, machte der Seneschall.
»Rupert«, sagte der König, »warum ist der Seneschall beleidigt?«
»Ich bin nicht beleidigt!«
»Worauf warten wir dann noch?«, erkundigte sich Harald.
»Auf in den Südflügel!«
»Einen Augenblick!«, unterbrach ihn Rupert. »Nur wir vier? Ohne Wachen, ohne Eskorte? Nach den Worten des Seneschalls ist der Südflügel nicht ganz ungefährlich.«
»Du kannst ja hier bleiben, wenn du Angst hast«, meinte Harald.
»Ich dachte eher an die Sicherheit des Königs«, entgegnete Rupert.
»Natürlich, was denn sonst?«, spottete Harald.
»Jetzt reicht es!«, sagte der König scharf. »Wir verzichten auf Wachen, Rupert, weil der Hofstaat eingriffe, wenn er die leiseste Ahnung von unserem Vorhaben hätte. Und wir haben keine Zeit mehr, eine Rebellion zu unterdrücken.«
»Was geschieht, wenn wir mit den Schwertern zurückkommen?«, wollte Rupert wissen. »Den Höflingen wird es nicht gefallen, dass wir sie über unsere Absicht im Unklaren gelassen haben.«
»Das dürfen Sie laut sagen!«, motzte der Seneschall.
»Nun fangen Sie nicht wieder von vorn an, Sir Seneschall«, sagte der König mit fester Stimme. »Sie hatten sich bereit erklärt, uns zu helfen.«
»Außerdem«, fügte Harald hinzu, »soll uns die Ansicht der Höflinge schnuppe sein, wenn wir die Schwerter erst besitzen.«
»Diskutieren können wir später«, mahnte der König. »Jetzt müssen wir handeln. Es wird bald hell, und wir sind noch nicht mal in der Nähe des Arsenals. Sir Seneschall, zeigen Sie uns bitte den Weg…«
»Meinetwegen«, brummte der Seneschall widerwillig.
»Wenn ich bis jetzt mitgemacht habe… Ich bin einfach zu gutmütig. Das ist mein großer Fehler. Ich lasse mich immer wieder ausnützen…«
Der Burgverwalter grummelte halblaut vor sich hin, während er sie aus dem Saal und zum Südflügel führte. Harald und der König folgten ihm auf den Fersen. Rupert bildete die Nachhut, die Hand nie weit vom Schwertgriff entfernt. Er ließ die Blicke aufmerksam umherschweifen, als die kleine Gruppe durch die düsteren, nur von Fuchsfeuer-Ampeln erhellten Passagen und Korridore hastete, und anfangs war er enttäuscht, dass alles so… normal wirkte. Nach all den Balladen und Legenden über den verschwundenen Südflügel hatte er eigentlich mit einer Umgebung gerechnet, die Furcht und Schrecken einflößte. Ein grimmiges Lächeln huschte über seine Züge. Hatte er nicht selbst die Erfahrung gemacht, dass Balladen und Legenden in den wenigsten Fällen stimmten?
Und doch hatte der Südflügel etwas… Beunruhigendes an sich. Rupert hatte es bereits beim Verlassen des Saales gespürt, und je tiefer er durch die leeren, hallenden Gänge in das Herz des wieder entdeckten Gebäudeteils vordrang, desto deutlicher wurde der Eindruck des Unfertigen, Unvollendeten
… als sei etwas im Wachsen, im Entstehen; etwas, das kein Ende hatte… Eine kalte Brise erfasste ihn, und die Nackenhaare sträubten sich ihm. Unwillig schüttelte er den Kopf. Er durfte sich jetzt nicht vom Verfolgungswahn überwältigen lassen. Doch dann kam ihm ein neuer Gedanke, und er beschleunigte seine Schritte, bis er neben dem Seneschall ging.
»Sir Seneschall, weshalb ist dieser Flügel leer, während der Rest der Burg von Flüchtlingen überquillt? Sollten wir nicht einen Teil der Leute hier einquartieren?«
»Niemand will hier bleiben«, erklärte der Seneschall ruhig.
»Vor zweiunddreißig Jahren geschah etwas in diesem Flügel – etwas so Furchtbares, dass die Echos bis heute nicht verstummt sind. Man spürt es im Boden und in den Wänden, ja sogar in der Luft – einen Hauch des Bösen, das hier vor langer Zeit seinen Anfang nahm und immer noch nachwirkt, nach all den Jahren. Die Steine erinnern sich. Sie spüren es auch, nicht wahr, Rupert? Jeder spürt es nach einer Weile.
Die ersten Leute, die wir hier unterbrachten, ergriffen nach wenigen Stunden die Flucht. Die Nächsten hielten es nicht einmal so lange aus. Schließlich gaben wir auf und überließen den Südflügel sich selbst. Was immer hier lauert, verbirgt sich im Dunkeln. Es will keine Gesellschaft.«