Выбрать главу

Ihre Blicke trafen sich. Sie wussten beide, wie nahe sie daran gewesen waren, sich von den Zauberschwertern verführen und überwältigen zu lassen – ein Wissen, das sie nie mit anderen teilen würden. Nach einer Weile schauten sie zu Boden, vielleicht weil sie die Erinnerung verdrängen wollten.

Weil sie vergessen wollten.

»Glaubst du, dass der Zauberer den Drachen wecken kann?«, fragte Harald.

»Schwer zu sagen. Der Drache liegt jetzt seit Monaten im Winterschlaf. Rupert glaubt, dass er in den Tod hinüberdämmert.«

»Hmm. Es soll schon vorgekommen sein, dass sich auch Rupert täuscht.«

Julia sah Harald forschend an. »Du hättest das Tor doch geschlossen und ihm den Rückzug abgeschnitten, stimmt's?«

»Wie oft denn noch, Julia? Es war notwendig. Jemand musste den Bergfried verteidigen, damit die Eingänge gegen den Feind gesichert werden konnten.«

»Und warum nicht du?«

Harald lächelte. »Ich habe noch nie gern den Helden gespielt.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Julia stand mühsam auf und machte sich auf die Suche nach Rupert.

Rupert lehnte sich gegen die versperrte Stalltür und wartete ungeduldig auf das Erscheinen der anderen. Es war immer noch bitterkalt auf dem Burghof, und er bedauerte, dass er nicht nach drinnen gegangen war und sich einen dicken Mantel geholt hatte. Er schlug die Hände zusammen, hauchte die Fingerspitzen an und verschränkte schließlich die Arme vor der Brust. Kalt. Immer diese Kälte. Er spähte erwartungsvoll über das Menschengewimmel auf dem Burghof hinweg, aber von den anderen war keine Spur zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich mir immer die Mühe mache, rechtzeitig zu erscheinen, dachte Rupert verärgert. Kein Mensch außer mir kommt zum vereinbarten Zeitpunkt! Er zog sein Schwert und begann mit ein paar einfachen Übungen, aber die Eiseskälte machte ihn ungeschickt und schwerfällig, und die eingeschränkte Sicht behinderte seine Zielsicherheit. Schließlich gab er auf und schob das Schwert wütend in die Scheide. Ob es ihm passte oder nicht, seine Tage als Schwertkämpfer waren endgültig vorbei. Vielleicht sollte er sich auf die Streitaxt umstellen. Mit einer Streitaxt traf man wesentlich leichter. Er tastete vorsichtig nach dem geschlossenen Augenlid und fluchte leise vor sich hin. Das Auge war verschwunden, aber es schmerzte immer noch. Er bewegte den linken Arm und die Schulter und nickte verdrießlich. Wahrscheinlich musste er dankbar sein, dass wenigstens einiges wieder in Ordnung gekommen war.

Bei dem Gedanken fiel Rupert das Einhorn wieder ein, und er runzelte die Stirn. Der Stallknecht hatte Sturmwind einen starken Schlaftrunk eingeflößt, um seine Schmerzen ein wenig zu lindern, und Rupert versichert, dass die Wunden letztlich verheilen würden, aber seine Stimme hatte eher skeptisch als überzeugt geklungen. Rupert seufzte müde. Ehe das Einhorn aus seiner Betäubung erwachte, war die Entscheidungsschlacht sicher zu Ende – so oder so.

Er ließ den Blick über den Hof schweifen und lächelte plötzlich, als er einen Kobold erkannte, der einen Rieseneimer mit kochendem Pech über das Kopfsteinpflaster schleppte. Rupert rief ihm einen Gruß nach, und der Kleine drehte sich verblüfft um. Er grinste breit, als er den Prinzen erkannte, und gesellte sich zu ihm. Einen Moment lang sah es so aus, als würde das Pech überschwappen, als er den schweren Eimer abstellte, und er fluchte ausgiebig. Dann wollte er Rupert die Hand reichen, sah jedoch gerade noch, wie schmutzig sie war, und salutierte zackig.

»Hallo, Prinzchen!«, feixte der kleinste Kobold. »Wie geht es immer?«

»Den Umständen entsprechend«, erwiderte Rupert. »Hast du eine Ahnung, wie es der Koboldtruppe in der Schlacht erging? Ich wurde gleich am Anfang vom Hauptheer abgeschnitten und verlor sie aus den Augen.«

»Sie sind alle tot«, erklärte der Kobold nüchtern. »Jeder Einzelne von ihnen. Sie gaben ihr Bestes, aber Kobolde werden nun mal nicht als Kämpfer oder Helden geboren.«

»Das tut mir Leid«, sagte Rupert. »Ich hatte keine Ahnung…«

»Unser Anführer starb mit ihnen«, fuhr der kleinste Kobold fort. »Er bestand darauf, seine Männer in den Kampf zu führen. Er war als Oberkobold nie so richtig glücklich, aber wir hatten keinen Besseren. Und er gab sich echt Mühe. Armer Kerl. Kam wohl nie über den Tod seiner Familie während des ersten Dämonen-Überfalls hinweg.«

»Und wer ist jetzt euer Anführer?«, wollte Rupert wissen.

Der kleinste Kobold grinste breit. »Ich natürlich – wer sonst? Ich habe vielleicht wenig Ahnung vom Heldentum, aber ich verstehe mich auf fiese Tricks und gemeine Fallen.

Wenn du mich jetzt entschuldigst, Prinzchen – ich muss den Eimer zu den Wehrgängen bringen, bevor das Pech kalt wird.

Warte nur, bis diese Dämonen versuchen, am äußeren Burgwall hochzuklettern. Die werden nicht wissen, wie ihnen geschieht!«

Er kicherte boshaft, packte seinen Eimer und eilte weiter über den Hof. Rupert blickte ihm nach und dachte dabei an den größten Kobold, den er je gesehen hatte, in eine schlecht sitzende Bronzerüstung gepackt und mit einer übel stinkenden Zigarre im Mund. Ein Kobold, der sich einst gewünscht hatte, von den Menschen das Vergessen zu lernen, weil sein Volk so viel zu vergessen hatte…

Jemand rief seinen Namen. Rupert schaute auf und sah Julia und den Großen Zauberer aus der Menge auf sich zukommen.

»Ich habe etwas für dich«, sagte Julia gut gelaunt und reichte ihm ein Stück schwarze Seide. Er drehte das Ding zweifelnd in beiden Händen.

»Und was ist das, Julia?«

»Eine Augenklappe, du Dummkopf! Streif sie mal über!«

Rupert gehorchte und rückte die Klappe hin und her, bis sie endlich richtig saß. »Nun?«, fragte er verlegen. »Wie sehe ich aus?«

Julia hielt den Kopf schräg und betrachtete ihn voller Bewunderung. »Verwegen!«, stellte sie fest. »Genau wie die Piraten in meinen Kinderbüchern!«

»Besten Dank!«, knurrte Rupert. Er warf einen drohenden Blick in die Runde, und der Zauberer wandte sich rasch den Stallungen zu. Der weitläufige, heruntergekommene Bau schien ihm nicht sonderlich zu imponieren.

»Seid ihr sicher, dass da drinnen ein Drache haust?«

»Er wählte den Stall selbst als Schlafquartier«, erklärte Julia. »Und ich hatte ausnahmsweise keine Lust, mit ihm zu streiten.«

»Hm.« Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Wie habt ihr ihn überhaupt dazu gebracht, euch auf die Burg zu folgen?«

»Ich rettete ihn vor einer Prinzessin«, sagte Rupert, und Julia nickte feierlich. Der Große Zauberer sah sie beide an und beschloss, nicht nachzuhaken. Er wollte die näheren Umstände lieber nicht erfahren.

Rupert drehte den Schlüssel herum und schob die Tür auf.

Im Innern des alten Holzgebäudes herrschte Dunkelheit, obwohl hier und da ein Lichtschimmer durch die mit Brettern vernagelten Fenster hereindrang. Rupert nahm eine Fackel aus der Halterung neben der Tür und schlug mit Feuerstein und Stahl Funken. Die plötzlich auflodernde Flamme drängte das Dunkel zurück, und der Stall vor ihnen nahm Gestalt an.

In den leeren Boxen sammelten sich die Schatten, und die niedrige Reetdecke war gerade noch zu erkennen. Rupert betrat den Mittelgang, gefolgt von Julia und dem Großen Zauberer.

Ihre Schritte hallten dumpf in der Stille wider, und das Licht der Fackel hüpfte und tanzte unentwegt, obwohl sie keinerlei Zugluft spürten. Sie entdeckten den Drachen ganz hinten im Stall, eingerollt in einem Nest aus schmutzigem Stroh. Seine großen gefalteten Schwingen hoben und senkten sich im trägen Rhythmus seines Atems. Rupert starrte den schlafenden Koloss schweigend an, und eine Woge der Scham erfasste ihn. Der Drache war seinetwegen im Dunkelwald verwundet worden. So schwer verwundet, dass er Monate später immer noch völlig entkräftet vor sich hindämmerte.

So schwer verwundet, dass er vielleicht sterben musste. Und sein einziges Bestreben bestand darin, das Tier zu wecken, damit es sich erneut in den Dunkelwald und in Lebensgefahr begab. Rupert fühlte sich müde, schuldbewusst und mehr als verlegen, aber er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben.