»Aber wir haben einen Drachen bei uns«, widersprach Julia. »Und jeder weiß, dass nur ein Held, der reinen Herzens ist, einen Drachen töten kann.«
»Legenden«, wiegelte der Drache müde ab. »Ich bin alt, Julia. Älter, als du dir vorstellen kannst. Meine Augen lassen nach, im Winter tun mir die Knochen weh, und ich habe seit Jahren kein Feuer mehr gespuckt. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch kann. Nein, Julia – Drachen sind ebenso wenig vor dem Tod gefeit wie alle anderen Lebewesen.«
»Heißt das, dass wir überhaupt keine Chance haben?«, fragte Julia leise.
»Es gibt immer eine Chance«, sagte Rupert und umklammerte sein Schwert.
»So nicht«, meinte der Drache. »Du wirst den Regenbogen-Lauf wagen müssen.«
»Was heißt das schon wieder?«, fauchte Rupert, den Blick fest auf die lauernden Schatten zwischen den halb verfaulten Bäumen gerichtet.
»Ich kenne einen Zauberspruch, der dich geradewegs ans Ende des Regenbogens bringt. Wenn du stark genug bist.
Jedem Menschen, der den Regenbogen nach unten laufen kann, geht sein Herzenswunsch in Erfüllung, was immer das sein mag.«
»Dann versuch es damit«, sagte Julia. »Ich will diesen Bestien auf keinen Fall lebend in die Hände fallen. Es gibt Gerüchte…«
Rupert nickte grimmig. Er kannte die Gerüchte ebenfalls.
»Pass auf!«, schrie Julia. Rupert stieß seinen Schlachtruf aus und schwang das Schwert beidhändig, als die Dämonen aus den Schatten des Dunkelwaldes hervorbrachen. Die Klinge schnitt mit kurzen, wilden Bogenhieben durch die Angreiferschar und mähte sie nieder wie überreifen Weizen. Blut spritzte umher, aber die Getroffenen gaben keinen Laut von sich. Die Stille des Dunkelwaldes wurde nur von stampfenden Schritten und den dumpfen Hieben des Schwertes durchbrochen. Der Drache richtete sich zu seiner vollen Größe auf, hieb mit den Pranken auf die Feinde ein und walzte alles nieder, was sich ihm in den Weg zu stellen versuchte. Um ihn häuften sich die Toten und die Sterbenden, aber immer noch drängten die Dämonen heran. Julia rammte einem Gegner den Dolch bis zum Heft in das vorquellende Auge und stieß den zuckenden Leichnam mit dem Fuß zur Seite. Das Einhorn galoppierte an ihre Seite, um sie zu schützen; Hufe und Horn trieften von Blut, Rupert wirbelte hierhin und dahin und gebrauchte sein Schwert mit tödlicher Sicherheit, aber für jeden Dämon, der fiel, tauchte ein neuer aus dem Dunkel auf.
Seine Arme und sein Nacken schmerzten, und jedes Mal, wenn er die Klinge niedersausen ließ, erschien sie ihm ein wenig schwerer, aber er kämpfte wild entschlossen weiter.
Der seit Monaten aufgestaute Zorn brach sich Bahn, und er fletschte die Zähne wie ein Wolf, als das Schwert einen Feind nach dem anderen niedermetzelte.
Und dann war der Kampf vorbei. Die Dämonen flohen in die Sicherheit des Dunkels, ohne ihre Toten mitzunehmen.
Rupert senkte langsam das Schwert und schaute sich um. Sein Atem ging stoßweise. Die Lichtung war von Leichen übersät.
Allmählich ebbte sein Zorn ab. Er fror und fühlte sich plötzlich matt und elend. Er war gründlich im Schwertkampf ausgebildet worden, wie es sich für einen Königssohn geziemte, aber die neu entdeckte Lust am Töten beunruhigte ihn. Freude an einem Gemetzel zu finden – das war Dämonen-Art. Das Blut, das von seiner Klinge tropfte, erfüllte ihn plötzlich mit Ekel, und er schob das Schwert in die Scheide, ohne es vorher abzuwischen. Dann schluckte er trocken und hielt nach seinen Gefährten Ausschau. Der Drache schien so gut wie unversehrt zu sein; das frische Blut an seinen Zähnen und Klauen stammte von den Gegnern. Das Einhorn hatte ebenfalls nur ein paar Kratzer abbekommen, obwohl sein weißes Fell blutverschmiert war. Julia wirkte kühl bis ins Herz, während sie ihren Dolch säuberte, aber ihre Hände zitterten dabei. Rupert schüttelte den Kopf. Ohne den Zorn, der ihn vorwärts gepeitscht hatte, fühlte er sich schwach und zittrig, aber schon vernahm er wieder das Rascheln und Knacken jenseits der Lichtung. Er wandte sich dem Drachen zu.
»Los, sag deinen Zauberspuch auf!«, sagte er mit rauer Stimme. »Noch so ein Sturmangriff, und wir sind platt!«
Der Drache nickte. »Es liegt ganz an dir, Rupert. Zuerst wirst du ein Licht in der Ferne sehen, eine Art Leuchtfeuer, und dann wird dir die Wilde Magie einen Weg weisen.. Folge ihm. Das ist der Regenbogen-Lauf. Was du an seinem Ende findest, hängt ganz von dir ab.«
Rupert starrte in die Finsternis hinaus, und eine Stimme tief in seinem Innern sagte: Ich kann nicht. Es war ihm schwer genug gefallen, mit Fackeln und Gefährten in den Dunkelwald zurückzukehren, aber sie aufzugeben und ganz allein in die Schwärze vorzudringen… Habe ich nicht schon genug getan? Ich kann nicht zurück ins Dunkel! Ich habe Angst!
»Rupert?«
Ich habe Angst!
»Wo bleibt der Zauberspruch?«, fragte Rupert.
»Halte dich bereit«, sagte der Drache. »Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln.«
Rupert nickte steif und schlenderte hinüber zum Einhorn.
»Beschützt du die Prinzessin, falls mir etwas zustoßen sollte?«
»Mit meinem Leben!«, versprach das Einhorn. »Ich kann nämlich sehr heldenhaft sein, wenn ich keine andere Wahl habe.«
»Das war mir von Anfang an klar.« Der Prinz lächelte.
Das Einhorn scharrte verlegen mit den Hufen. »Alles in allem habe ich schon schlimmere Abenteuerreisen mitgemacht.«
»Ich male mir lieber nicht aus, wie furchtbar sie gewesen sind.«
»Nun übertreib nicht gleich«, sagte das Einhorn geschmeichelt. »Und sei vorsichtig, wenn du diesen Regenbogen-Lauf antrittst! Ich habe mich an unser Gezänk gewöhnt.«
Rupert tätschelte dem Einhorn zum Abschied den Hals.
Als er sich von seinem Reittier abwandte, stand unvermittelt Julia vor ihm. Sie reichte ihm ein Taschentuch.
»Ein Gunstbeweis«, sagte sie. »Der Held trägt immer den Gunstbeweis einer edlen Dame bei sich.«
»So etwas wollte ich schon immer haben«, murmelte Rupert. Er schob das Seidentüchlein in sein zerfleddertes Lederwams. »Ich werde dieses Unterpfand unversehrt zurückbringen.«
»Bring lieber Hilfe mit, das ist wichtiger.« Plötzlich beugte sie sich vor und küsste ihn. »Und komm selbst unversehrt zurück, sonst bin ich dir auf ewig böse.«
Sie rannte los und verschmolz mit den Schatten. Der Prinz fuhr sich mit der Hand scheu über die Lippen. Zumindest in diesem Punkt hatten die Barden nicht gelogen. Der Drache gesellte sich zu ihm.
»Bist du bereit?«
Rupert starrte in die Schwärze. Ich habe Angst. Aber versprochen ist versprochen.
»Besser wird es nicht. Und du?«
»Der Zauber müsste wirken.«
Rupert zog sein Schwert, wog es kurz in der Hand und reichte es dem Drachen. »Gib es Julia! Mich behindert das Ding nur beim Laufen.«
»Klar«, sagte der Drache.
»Ein Licht!«, schrie das Einhorn. Rupert fuhr herum. Tief im Dunkelwald zeigte sich ein grellroter Schein.
»Das ist es!«, rief der Drache, aber Rupert war bereits unterwegs. Er durchbrach die Kette der Dämonen am Rande der Lichtung und war verschwunden, ehe sie ihn aufhalten konnten. Im Dunkel vor ihm zeichnete sich ein Weg ab, der unter seinen Füßen zu schimmern und zu funkeln schien. Ein Dämon sprang aus den Schatten, um ihm den Weg abzuschneiden, und schrie auf, als der Pfad plötzlich hell loderte und ihn verschlang. Rupert warf einen flüchtigen Blick auf den reglosen Körper und eilte weiter. Hinter sich hörte er die ersten Kampfgeräusche, als die Dämonenschar über seine Gefährten herfiel. Er zwang sich, noch schneller zu laufen. Die Bäume des Dunkelwaldes flogen an ihm vorbei. Der Pfad zog eine leuchtende Spur durch die Finsternis. Der Atem brannte ihm in den Lungen, stach in der Brust, und kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter, aber er achtete weder auf den Schmerz noch auf die Angst. Der verzweifelte Wunsch, irgendwie seine Freunde zu retten, trieb ihn vorwärts. Er wusste nicht, wie lange er gelaufen war, aber der Weg schimmerte immer noch vor ihm, und das Licht schien keine Spur näher zu kommen. Es geht nicht darum, wie schnell du rennst, wisperte eine Stimme in seinem Innern, sondern wie sehr du dich überwindest. Erschöpfung lähmte seine Muskeln, und er sah mit Entsetzen, dass der Pfad immer fahler leuchtete. Er holte das Letzte aus sich heraus, schrie laut über den Schmerz, der ihn durchzuckte, und dann stolperte er und fiel der Länge nach hin, als der Pfad kurz flackerte und erlosch.