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»Ich nehme an, sie haben dich beleidigt«, sagte Rupert.

»In der Richtung«, bestätigte Julia.

»Vergiss es!«, meinte Rupert besänftigend. »Ich denke, sie werden ihre Worte in Zukunft besser abwägen.«

»Ganz bestimmt«, versprach eine schwache männliche Stimme hinter ihnen.

Rupert schüttelte grinsend den Kopf. Schon jetzt war abzusehen, dass es Julia Mühe bereiten würde, sich wieder wie eine Dame zu benehmen.

Der Champion verbeugte sich tief, als Julia und Rupert zurückkamen. »Wenn Sie mir folgen wollen, Prinzessin Julia –

hier entlang, bitte!«

Julia nickte huldvoll, nahm den Arm, den ihr der Champion anbot, und ließ sich die Treppe nach oben führen. Die Eskorte folgte in diskretem Abstand. Rupert wandte sich dem Drachen und dem Einhorn zu.

»Ich dachte, die Eskorte sei für dich bestimmt«, sagte der Drache.

»Irrtum«, entgegnete Rupert. »Los, nun steht hier nicht so rum! Ich möchte, dass ihr mit zum König kommt!«

»Alle beide?«, fragte das Einhorn schüchtern.

»Aber sicher!«, erklärte der Prinz mit einem Lächeln. »Ich bin froh um jede Unterstützung. Und beeilt euch, sonst bringt Julia noch jemanden um!«

Rupert tigerte ungeduldig durch das enge Vorzimmer und warf wütende Blicke auf das fest verschlossene Portal, das in den Großen Thronsaal führte. Der Champion war vorausgeeilt, um dem König zu melden, dass sein Sohn nun eingetroffen sei, worauf die schweren alten Flügeltüren wie so oft zuvor dröhnend vor Ruperts Nase zugefallen waren. Wieder einmal redete man sich da drinnen über seine Zukunft die Köpfe heiß.

Was immer sie vorschlagen, meine Antwort lautet nein! dachte Rupert entschlossen. Ich habe den Dunkelwald doch nicht besiegt, um mich von meiner intriganten Verwandtschaf t erneut in den Tod schicken zu lassen!

Er blieb stehen und horchte an der Tür. Anhaltendes Stimmengewirr drang durch das massive Holz. Das ließ darauf schließen, dass sich trotz der späten Stunde fast der gesamte Hofstaat versammelt hatte. Rupert grinste. Die Höflinge hassten es, um diese Zeit zu arbeiten, weil dabei die wichtigen Dingen des Lebens zu kurz kamen – die Jagd, das Saufen und die Weiber. Rupert streckte sich und dachte sehnsüchtig an das Bett mit der dicken Matratze, das in seinen Gemächern auf ihn wartete. Aber so müde er auch war, er wusste, dass er keinen Schlaf fände, bis er herausgefunden hätte, welche neue Teufelei dem König und seinem Hofstaat eingefallen war. Er warf sich in einen der höchst unbequemen Besuchersessel und beobachtete seine Freunde.

Julia hatte ihren Dolch aus dem Stiefel geholt und benutzte die Familienporträts für Zielübungen. Ihre Trefferquote konnte sich sehen lassen. Der Drache, der halb im Korridor und halb im Vorzimmer lag, versuchte Rauchringe aus den Nüstern zu blasen und kaute geistesabwesend an einem Jahrhunderte alten Gobelin, den Rupert noch nie sonderlich schön gefunden hatte. Das Einhorn… Rupert zuckte zusammen.

»Einhorn, hättest du das nicht vorher erledigen können?«

»Tut mir Leid«, sagte das Einhorn kläglich. »Du weißt doch, dass ich in fremden Gebäuden immer Beklemmung bekomme! Ich werde das Gefühl nicht los, das Dach könnte einstürzen und…«

Rupert schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem verschlossenen Portal zu. Wie oft hatte er vor dieser Flügeltür gestanden und darauf gewartet, den eigenen Vater sprechen zu dürfen? Seine Gedanken wanderten durch die Vergangenheit und fanden wenig Erfreuliches.

Als er sieben Jahre nach seinem Bruder das Licht der Welt erblickt hatte, waren alle überrascht und fast alle unangenehm überrascht gewesen. Sicher, ein König brauchte einen zweiten Sohn, falls dem ersten etwas zustieß. Aber zwei gesunde erwachsene Söhne brachten nichts als Ärger. Rupert hatte diese Erkenntnis früh gewonnen; jeder war bemüht gewesen, ihn in diesem Punkt schonungslos aufzuklären. Er runzelte die Stirn, während die Erinnerungen aus den Schatten gekrochen kamen. Die Lehrer, die ihn schlugen, weil er schneller begriff als der ältere Bruder. Die Fechtmeister, die ihn schlugen, weil er nicht so stark war wie der ältere Bruder. Die Höflinge, die ihn je nach Lage der Dinge umschmeichelten oder beleidigten. Die Barone, die in seinem Namen Intrigen spannen. Und der Champion, in dessen kalten dunklen Augen immer der Tod stand.

Fuchsfeuer-Moos glomm in mehreren Ampeln, die von der niedrigen Decke hingen, aber die Schatten im Vorzimmer ließen sich nicht vertreiben. Es war, als habe er die Finsternis in die Burg eingeschleppt. Rupert lehnte sich zurück und seufzte müde. Draußen im Wald war alles so einfach und logisch gewesen. Er musste zurück, weil das Waldkönigreich ihn brauchte. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.

Das Waldkönigreich brauchte ihn nicht. Es hatte ihn nie gebraucht. Die einzigen Geschöpfe, die ihn je gebraucht hatten, waren Julia, der Drache und das Einhorn. Seine Freunde. Ruperts Lächeln wurde sanfter, als er dies dachte, und er ließ sich die Worte genießerisch durch den Kopf gehen. Er hatte nie Freunde besessen. Dem Prinzen war nie gestattet worden, mit Kindern einfacher Herkunft zu spielen, und die Familie…

Er war erst fünf Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb.

Sein Bruder hatte ihn verspottet und gequält. Und sein Vater hatte ihn auf Abenteuerfahrt geschickt, um sich ein Problem vom Hals zu schaffen.

Rupert schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Er hatte zweimal den Dunkelwald bezwungen, Dämonen besiegt und den Regenbogen beschworen. Zum Henker mit seinem Vater, zum Henker mit dem Hofstaat und zum Henker mit dem verdammten Champion! Sie hatten versucht, ihn loszuwerden. Vergeblich. Er war wieder da – ob es ihnen passte oder nicht.

»Dauert das noch lange?«, fragte Julia und zog ihren Dolch aus dem Auge eines Urahns.

Rupert zuckte die Achseln. »Es macht ihnen Spaß, mich warten zu lassen. Damit weisen sie mich in meine Schranken.«

»Und das hast du so einfach hingenommen?«

Rupert schaute erst Julia, dann das Einhorn und den Drachen an.

»Bis jetzt schon«, sagte er nachdenklich. »Aber inzwischen hat sich einiges geändert. Drache…«

Der Drache, der sich gerade die Krallen an einer nutzlos herumstehenden Rüstung schärfte, schaute auf. »Ja, Rupert?«

»Siehst du diese Flügeltür?«

»Ja, Rupert.«

»Die Frage ist, in wie viele Streichhölzer sich so ein Ding wohl zerlegen lässt…«

Der Drache grinste breit, nachdem er das Portal fachmännisch gemustert hatte. Er richtete sich auf und tippte die Bohlen mit einer krallenbewehrten Pfote an. Sie erbebten unter seiner Berührung. Mit einem feierlichen Nicken zog er sich aus dem engen Vorzimmer zurück und drehte sich drau­

ßen im Korridor um. Rupert, Julia und das Einhorn pressten sich in die entfernteste Ecke, als der Drache sein Hinterteil behutsam in den Raum schob. Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass seine Freunde außer Reichweite waren, und ließ den Schwanz schwungvoll auf-und niederpeitschen. Die Flügeltüren explodierten in einem Schauer von Holzsplittern, die wie Kartätschen durch den Thronsaal schossen. Rupert nickte befriedigt, als er die Schreie und Flüche des versammelten Hofstaats vernahm.

Das wird euch lehren, mir die Tür zum Thronsaal nicht mehr zu versperren! Mit einem Grinsen schob er sich am zuckenden Schweif des Drachen vorbei, um sich persönlich ein Bild vom Ausmaß des Schadens zu machen. Ein Türflügel hing schief in einer halb geborstenen Angel, während der andere seinen Geist ganz aufgegeben hatte und zerbröselt am Boden lag. Rupert atmete tief durch und schritt erhobenen Hauptes über die Schwelle. Das Geschrei der Höflinge verstummte.

Betretenes Schweigen breitete sich aus.

Rupert warf einen Blick in die Runde. Die noblen Herrschaften, die sich im Großen Saal eingefunden hatten, starrten ihn mit einem Gemisch aus Furcht, Empörung und Neugier an. Ein halbes Hundert mit Fuchsfeuer-Moos gefüllter Ampeln warf silbriges Licht über die Höflinge, während am anderen Ende des geräumigen Saals die letzten Strahlen der Abendsonne durch die herrlichen Buntglasfenster sickerten und auf ein Podest mit einem geschnitzten Eichenthron fielen.