»Warum nicht?«, entgegnete Darius. »Wie Sir Champion bereits andeutete – was ist das Leben von ein paar Bauern gegen die Sicherheit des Waldkönigreichs?«
»Das ist doch Wahnsinn!«, fuhr ihn der Champion an. »Ich sagte nicht, dass wir uns der Finsternis ergeben sollten, sondern dass wir sie bekämpfen müssen! Ein Blutopfer für den Dämonenfürsten – und wir werden ihn nie mehr los!«
»Ein solcher Plan würde uns alle vernichten!«, stieß der Astrologe hervor. »Entweder wir wehren uns gegen das Dunkel, oder es verschlingt uns!«
»Majestät, als Ihr Kriegsminister protestiere ich entschieden dagegen, dass…«
»RUHE!«, brüllte Rupert. Entsetztes Schweigen folgte seinem Ausbruch, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Der Hofstaat hatte in der Hitze des Gefechts seine Anwesenheit völlig vergessen.
»Danke, Rupert«, sagte König Johann. »Der Lärm wurde in der Tat ein wenig unangenehm. Wenn ich den Champion richtig verstanden habe, hast du auf deiner Reise den Dunkelwald durchquert.«
»Zweimal«, erwiderte Rupert knapp.
Eine Welle mühsam unterdrückter Heiterkeit ging durch die versammelten Höflinge. Der Kriegsminister kicherte ganz offen, und seine dunklen Schweinsäuglein blitzten boshaft.
»Nun hören Sie aber auf, Rupert!«, spottete Lord Darius und legte seine fette Hand auf Ruperts Arm. »Gleich zweimal? Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass wir Ihnen diese Geschichte abnehmen! Selbst mit einem Drachen im Gefolge hätten die Dämonen Sie in Stücke gerissen.«
»Sie versuchten es«, entgegnete Rupert ruhig. »Wir hatten gehöriges Glück, dass wir ihnen entkamen. Und nun nehmen Sie Ihre Finger von meinem Arm, sonst stopfe ich Ihnen die eigene Hand ins Maul!«
Der Minister kam seinem Befehl übertrieben geziert nach und verbeugte sich sarkastisch.
»Und wie viele Dämonen trafen Sie im Dunkelwald an?
Zehn? Zwanzig?«
»Zu viele«, sagte Rupert wütend. »Sie jagen inzwischen in Rudeln.«
»Unsinn!«, widersprach der Astrologe scharf. »Jeder weiß, dass Dämonen nicht schlau genug sind, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sie fallen sogar über ihre Artgenossen her, wenn das Nahrungsangebot knapp wird.«
»Ich war dort.« Rupert bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie hunderte dieser blutgierigen Bestien Seite an Seite kämpften.«
»Hunderte?«, wiederholte Darius, und sein Blick verriet deutliche Verachtung. »Verschwenden Sie unsere Zeit nicht mit solchen himmelschreienden Lügen! Ich bezweifle nicht, dass Prinzessin Julia von Ihren Heldengeschichten beeindruckt war, aber uns können Sie nicht so leicht täuschen.
Jeder weiß, dass Sie ein Feigling und Versager sind. Und nun gehen Sie endlich und erzählen den Küchenmägden von Ihren Abenteuern! Hier haben Sie nichts verloren.«
Rupert rammte dem Minister die Faust in das spöttisch feixende Gesicht. Ein entsetztes Raunen war zu hören, als Darius nach hinten in die Menge kippte und sich nicht mehr rührte. Ein Gardesoldat traf Anstalten, Rupert in seine Schranken zu weisen. Julia trat ihn zwischen Wind und Wasser und setzte mit einem Genickschlag nach, als er nach vorn kippte.
Weitere Gardisten stürmten vor, und der Champion zog sein Schwert. Rupert und Julia stellten sich Rücken an Rücken und zogen ebenfalls die Schwerter. Einen Moment lang rührte sich niemand.
»Glauben Sie, dass Sie es gegen mich aufnehmen können, mein Lieber?«, fragte der Champion leise.
»Vielleicht«, entgegnete Rupert. »Sie sagten selbst, dass meine Reflexe besser seien als früher. Und Julia kann großartig mit dem Schwert umgehen. Mit ein wenig Glück – wer weiß…«
»Mit ein wenig Glück ist Ihnen nicht geholfen.« Der Champion kam lächelnd auf ihn zu. Seine Augen waren kalt und hart. Tödlich.
»Schluss jetzt!«, rief der König mit lauter Stimme und sprang auf. »Sir Champion, stecken Sie Ihr Schwert ein! Das ist ein Befehl. Wachen, zurück an eure Plätze! Mir droht keinerlei Gefahr.«
Der Champion sah den König kurz an, ehe er das Schwert in die Scheide schob. Seine Miene war ruhig und ausdruckslos. Die Wachen begaben sich zögernd an ihre Plätze, und der König ließ sich wieder in die Kissen seines Thronsessels sinken.
»Rupert, Julia – senkt bitte eure Waffen!«, fuhr König Johann ruhig fort. Seine Blicke wanderten von seinem Sohn zur Prinzessin und wieder zurück. »Ihr steht hier unter meinem Schutz, und ich gebe euch mein Wort, dass euch an diesem Hof nichts zustoßen wird.«
Julia sah Rupert an, und der nickte langsam. Nachdem sie die Schwerter weggesteckt hatten, entspannte sich alles ein wenig.
Ein paar Höflinge scharten sich um den schwach stöhnenden Lord Darius.
»Bringt den Kriegsminister in seine Gemächer!«, befahl der König. Zwei Männer fassten Darius unter und schleppten ihn nach draußen. Der König verbarg hinter vorgehaltener Hand ein Lächeln und lehnte sich zurück. »Nun zu dir, Rupert…«
»Nein, nein und nochmals nein!«, rief Rupert mit großer Entschiedenheit. »Nein, ich werde kein Heer gegen die Dämonen in den Dunkelwald führen. Nein, ich werde nicht an der Spitze einer diplomatischen Abordnung mit den Dämonen verhandeln. Und nein, ich besitze weder Pflicht- noch Ehrgefühl. Damit ist, glaube ich, alles Notwendige gesagt.«
Julia nickte feierlich.
»Rupert, ich versichere dir…«, begann König Johann, aber Rupert unterbrach ihn, wohl wissend, dass er verloren war, wenn er sich jetzt auf Diskussionen einließ.
»Vergiss es! Was immer du mir vorschlagen willst – die Antwort lautet nein! Ich habe meinen Beitrag geleistet. Nun kann zur Abwechslung ein anderer seinen Kopf auf den Block legen.«
»Rupert, wenn es einen anderen gäbe…«
»Es gibt einen. Harald.«
Harald, der sich gelangweilt die Nägel poliert hatte, schaute auf und schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Bruder«, sagte er liebenswürdig. »Ich werde hier gebraucht.«
»Echt, Mann?«
Es entstand eine kleine Pause. Die Höflinge taten, als hätten sie nichts gehört.
»Rupert«, sagte König Johann bestimmt, »ich finde zwar auch, dass du eine Erholung verdient hast. Leider ist die Mission, die ich dir zugedacht habe, aber so dringend und wichtig, dass sie keinen Aufschub duldet. Morgen früh…«
»Morgen f rüh!«, begehrte Rupert auf. »Ich bin eben erst angekommen. Das glaube ich nicht. Nein, das glaube ich einfach nicht. Ich bin noch keine Stunde daheim, und schon versuchst du mich wieder loszuwerden. Weshalb die verdammte Eile?«
»Uns läuft die Zeit davon«, meldete sich Thomas Grey zu Wort. »Der Blaue Mond geht auf.«
Ein dumpfes Gemurmel lief durch die Reihen der Höflinge, während der junge Prinz den Astrologen verständnislos anstarrte.
»Wir hatten seit Jahrhunderten keinen Blauen Mond mehr«, sagte Rupert langsam. Dann erinnerte er sich verschwommen, und sein Blick wurde starr. »Moment mal –
einigen Legenden nach entstand der Dunkelwald, als sich der Blaue Mond das erste Mal am Himmel zeigte…«
Der Astrologe nickte düster. »Einmal während der Phase des Blauen Mondes herrscht die Magie über die Welt, die Wilde Magie, die erschaffen und zerstören kann und stark genug ist, um die Realität selbst zu verändern. Sie wird in der Nacht des Blauen Vollmonds entfesselt. Uns bleiben noch sieben Monate bis zu dieser Nacht. Sieben Monate, in denen wir eine Antwort auf die Finsternis finden müssen. Gelingt das nicht, dann wird der Dunkelwald alles verschlingen.
Unsere Kultur wird untergehen. Der langen Nacht wird kein Ende mehr sein. Die Welt wird den Dämonen gehören.«
Stille folgte der düsteren Vision des Astrologen. Die Höflinge waren wie erstarrt.
»Aber dagegen muss doch etwas unternommen werden«, meinte Rupert schließlich unsicher.
»Ganz recht«, sagte der Astrologe. »Und deshalb bitten wir Sie, Prinz Rupert, zum Schwarzen Turm zu reisen und den Großen Zauberer zu holen.«