»Natürlich«, sagte Rupert. »Ich besorge dir so viel Gras, wie du nur fressen kannst.«
»Pfui Mahlzeit!«
Sie näherten sich dem zerschmetterten Portal, Rupert immer noch humpelnd und auf Julia gestützt.
»Das ist wieder mal typisch!«, murmelte das Einhorn.
»Was?«, wollte Rupert wissen.
»Da übe ich stundenlang, richtig zu humpeln, und niemand findet das auch nur erwähnenswert, während du…«
Rupert und Julia schauten einander an und prusteten los.
Dann führten sie den Drachen und das nicht mehr humpelnde Einhorn aus dem Thronsaal.
König Johann wartete, bis die Schwanzspitze des Drachen verschwunden war, ehe er sich mit einem müden Seufzer in die Kissen sinken ließ. Thomas Grey nahm langsam auf den Stufen Platz, die zum Thron hinaufführten. Seine Knie knirschten, als er sich hinsetzte. König wie Astrologe sahen plötzlich sehr viel älter aus.
»Wirkt der Thronsaal ohne Ruperts Freunde nicht viel grö
ßer?«, fragte der König.
Grey lachte. »Und stiller…«
»Mir gefällt diese Julia«, sagte der König. »Sie hat Mumm. Und Ruperts Rechte scheint kräftiger als früher zu sein.«
»Wenigstens hat er uns diesen Deppen Darius eine Weile vom Hals geschafft.«
»Genau«, knurrte der König. »Das kommt davon, wenn man erbliche Ministerämter einführt!«
»Keiner meiner besseren Einfalle«, gab Grey zu. Er gähnte plötzlich.
»Lass das!«, sagte der König. »Sonst steckst du mich an, und ich habe noch eine Menge Arbeit zu erledigen – glaube ich zumindest.«
»Allerdings«, pflichtete ihm Grey bei. »Zuerst einmal müssen wir sämtliche Arrangements für Haralds Hochzeit ändern.«
König Johann schloss die Augen und stöhnte laut. »Als ob sie mich nicht schon genug gekostet hätten!«
»Und dann müssen wir uns eine Absage für die Baronesse vom Eichengrund einfallen lassen, die sie möglichst wenig kränkt.«
»So ein Mist!«, sagte der König. »Nun werden die Barone noch mehr Schwierigkeiten machen. Haben sie denn in letzter Zeit überhaupt noch Steuern entrichtet?«
»Keinen Heller«, berichtete der Astrologe. »Sie zahlen nicht, weil sie glauben, ungestraft damit durchzukommen, und wir können unseren Forderungen nicht mit der königlichen Garde Nachdruck verleihen, solange die Dämonen da draußen frei herumlaufen.«
»Und der Champion glaubt, sie würden mir ein Heer zur Verfügung stellen!«, seufzte der König.
»Politik war noch nie seine starke Seite.«
»Immerhin ist er dem Thron treu ergeben«, wandte der König ein. »Deshalb habe ich ihn auch zum Champion gemacht. Aber ich muss gestehen, Thomas, dass er mich nach all den Jahren immer noch nervös macht. Seine bedingungslose Loyalität ist fast unmenschlich. Er hat auf meinen Befehl hin über hundert Menschen getötet und kein einziges Mal nach dem Grund gefragt.«
»Wenn ein Champion anfängt, Fragen zu stellen, wird es höchste Zeit, ihn durch einen neuen Champion zu ersetzen«, erklärte Grey trocken.
Der König lachte freudlos. »Das Leben war nicht immer so kompliziert. Erinnerst du dich noch an meine Thronbesteigung, Thomas?«
»Und ob, Johann! Muss gut fünfunddreißig Jahre her sein, seit dir der Große Zauberer die Krone aufsetzte. Damals befand sich noch genug Gold in den Truhen, die Barone kannten ihre Grenzen, und der Dunkelwald war nicht mehr als eine Legende – ein Tuscheklecks auf den Landkarten.«
»Das liegt eine Ewigkeit zurück, Thomas.« Der König zupfte sich nachdenklich am struppigen grauen Bart. »Wann sind mir die Zügel entglitten? Ich habe mir all die Jahre hindurch redliche Mühe gegeben, aber für jedes gelöste Problem tauchten zwei neue auf. Als ich die Regierung übernahm, war das Waldkönigreich ein blühendes, wohlhabendes Land –
eine Macht, mit der man rechnen musste. Wir hatten so große Pläne, du und ich… Alles vorbei. Geblieben sind zwei alte Männer, die gegen die eigenen Barone kämpfen müssen, um das Reich notdürftig zusammenzuhalten.
Wir sind die letzten Vertreter der alten Ordnung. Am Tag meiner Krönung beugten einhundertfünfzig Ritter vor mir das Knie und leisteten den Lehenseid. Wo sind sie jetzt? Allesamt tot und verschollen, ihr Leben verschwendet in dummen kleinen Kriegen. Alle meine tapferen Kämpfer… Heute ist das Rittertum aus der Mode und Ehre ein Begriff der Vergangenheit. Die Zeiten ändern sich, und ich kann und mag mich nicht mehr mit ihnen ändern.
Es ist so lange her, seit ich abends in aller Ruhe die Augen schließen konnte, Thomas. So lange, seit ich ohne Angstträume schlafen konnte. So lange, seit meine arme Eleanor starb…«
Grey lehnte den Kopf gegen das Knie des Königs und eine Weile saßen sie stumm da, zwei alte Freunde, die an glücklichere Tage dachten.
Schatten erfüllten die Burg, als die Nacht hereinbrach. König Johanns Blicke wanderten durch den weiten, leeren Saal mit seinen holzvertäfelten Wänden und hoch aufragenden Pfeilern, und Geister zogen an ihm vorbei, Geister in schimmernden Rüstungen mit feierlich erhobenen Schwertern, die ihrem König Treue gelobten. Alle Helden seines Reiches, die Vollbringer großer Taten, die Rächer des Bösen… tot und verschwunden im Nebel der Jahre. König Johann starrte in die Leere, und die Geister verließen ihn einer nach dem anderen, bis nur noch sein Thron übrig blieb, sein Thron und sein Reich.
»Weißt du«, sagte König Johann schließlich, »es sind nicht die falschen Entscheidungen an sich, die mich quälen. Weit mehr quält mich die Tatsache, dass ich tagelang die Für und Wider abwäge und dennoch oft die falsche Entscheidung treffe.«
Der Astrologe lachte leise. »Für solche Fälle hast du mich, Johann. Ich bin zwar nicht der Große Zauberer, aber meine kleinen Tricks sind hin und wieder auch ganz nützlich.«
»Allerdings, Thomas.« Der König fuhr dem Astrologen liebevoll durch die Haare. »Was täte ich ohne dich?«
Sie versanken wieder in Schweigen, und die Augen des Königs waren grüblerisch auf das Gestern gerichtet.
»Fünfundfünfzig ist nicht alt«, sagte er unvermittelt. »Ich bin vielleicht nicht mehr so jung wie früher, aber alt fühle ich mich auch nicht.«
»Irgendwann holt uns die Zeit alle ein«, meinte der Astrologe.
»Du scheinst ihr zu entwischen«, stellte der König mit einer Spur von Neid fest. »Sieh dich an – dein Rücken ist gerade, und deine Haare sind so dunkel wie vor vierzig Jahren!«
»Die Haare färbe ich.«
»Und du trägst ein Korsett.«
»Nur manchmal.«
»Wenn du mal wieder hinter einem Weiberrock her bist.«
Der König kicherte boshaft. »Ein Mann in deinem Alter sollte mehr auf seine Würde achten.«
»Jeder Mensch braucht ein Steckenpferd«, entgegnete der Astrologe selbstzufrieden.
Der König grinste, aber bald darauf kehrten die gewohnten Sorgenfalten auf seine Stirn zurück. »Was ist eigentlich mit den Baronen los? So rebellisch waren sie noch nie.«
»Das macht der Dunkelwald, Johann. Die Quelle unseres Wohlstands sind die Bergwerke, die unter der Aufsicht der Barone stehen. Sie liefern das Gold, Silber und Kupfer, das unsere Wirtschaft in Schwung hält. Aber seit die Finsternis unaufhaltsam vorrückt, schluckt der Dunkelwald eine Mine nach der anderen. Die Bergleute wagen sich nicht mehr unter die Erde. Einige Stollen mussten bereits geschlossen werden, aus Furcht vor den Wesen, die aus der Tiefe hervorbrechen könnten.«
Der König runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich hatte keine Ahnung, dass die Lage derart außer Kontrolle ist.«
»Du kannst dich nicht um alles kümmern, Johann.«
»Vielleicht müssen wir den Baronen mehr Wachen zur Verfügung stellen…«
»Nein, Johann. Unsere Leute sind ohnehin spärlich genug verteilt. Selbst das Garderegiment, das wir dem jungen Rupert und dem Champion mit auf die Reise geben, können wir eigentlich nicht entbehren.«