»Alles in Ordnung, Rupert? Du bist ganz rot im Gesicht.«
»Alles in Ordnung. Ehrlich.«
»Julia ist fort?«
»Ja.«
»Ich mag sie«, bekannte das Einhorn.
»Ich auch«, sagte Rupert.
»Das ist mir nicht entgangen«, meinte das Einhorn tro
cken.
Rupert lachte und wickelte sich wieder in seinen Umhang.
»Bist du reisefertig?«
»Mehr oder weniger. Eher weniger. Warum kommt der Drache eigentlich nicht mit? Ich hatte mich eben an ihn gewöhnt.«
»Er schläft. Ich glaube, die Wunden, die ihm die Dämonen zufügten, sind schlimmer, als er uns eingesteht. Der Regenbogen hätte sie heilen sollen, aber ich nehme an, er ist einfach
… nicht mehr so jung wie früher. Letzten Abend schaffte er es gerade noch bis in den Stall. Er wird mir fehlen, aber ich will ihm weder die lange Reise noch den Kampf gegen die Dämonen zumuten.«
»Dämonen?«, fragte das Einhorn scharf. »Welche Dämonen?«
»Nun, wenn wir in den Dunkelwald zurückkehren…«
»In den Dunkelwald? Kein Mensch hat mir gesagt, dass wir noch einmal in den Dunkelwald müssen! Ohne mich!
Nimm mir sofort den Sattel ab! Ich rühre mich nicht von der Stelle.«
»Wir dringen nur ein ganz kleines Stück ein…«
»… und werden nur ein ganz kleines bisschen umgebracht!
Vergiss es!«
»Schau, Einhorn, entweder wir reiten los und holen den Großen Zauberer, oder der Dunkelwald kommt und holt uns!
So einfach ist das.«
»Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
»Welche?«
»Flucht?«
Rupert tätschelte lachend den Hals seines Reittiers. »Sind alle Einhörner so feige wie du?«
»Zumindest alle, die mit einem Funken von Verstand gesegnet sind. Weißt du, warum Einhörner so selten sind? Weil die meisten zu dämlich sind, sich bei Regen unterzustellen.
Oder sich von Menschen fern zu halten.«
Rupert betrachtete das Einhorn nachdenklich. »Du bist doch mein Freund, oder?«
Das Einhorn scharrte mit den Hufen. »Ja, irgendwie schon.
Ich habe mich an dich gewöhnt.«
»Mir bleibt ganz einfach keine andere Wahl, als in den Dunkelwald zurückzukehren. Es ist meine Pflicht.«
»Ich weiß«, seufzte das Einhorn ergeben. »Und mir bleibt keine andere Wahl, als dich zu begleiten.«
Rupert tätschelte noch einmal den Hals des Einhorns.
»Danke. Ich bräche nur ungern ohne dich auf.« Er runzelte plötzlich die Stirn. »Einhorn…«
»Ja?«
»Mir ist eben etwas eingefallen. Wir sind nun schon so lange zusammen, und ich kenne nicht mal deinen Namen.«
Das Einhorn drehte langsam den Kopf nach hinten und starrte Rupert mit einem blutroten Auge an.
»Meinen Namen? Ich bin ein Sklave, Prinz. Sklaven haben keine Namen.«
Durch den Burghof schien plötzlich ein eiskalter Wind zu wehen. Rupert schaute weg. Er konnte den ruhigen Blick des Einhorns nicht länger ertragen.
»Du bist kein Sklave…«
»Nein? Du glaubst, dass ich diesen Sattel und dieses Zaumzeug freiwillig trage? Die Menschen trieben mich von meiner Herde weg und fingen mich mit Peitschen und Stricken ein. Sie schlugen mich, bis mein Mut gebrochen war, und verkauften mich dann an dich. Das ist keine Sklaverei?«
Das Einhorn lachte bitter. »Du warst gut zu mir, Rupert. Ich mag dich, auf meine Weise. Aber das ändert nichts daran, dass ich ein Sklave bin. Und Sklaven sind namenlos. Früher hatte ich einen Namen. Als ich frei war, hatte ich einen Namen.« Die Stimme des Einhorns senkte sich zu einem Flüstern. »Eines Tages werde ich wieder einen Namen haben.«
»Das… tut mir Leid«, sagte Rupert hilflos. »Ich habe…
mir bisher nie Gedanken darüber gemacht.« Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. »Ich habe dich in den Dunkelwald geführt, wo du nur um Haaresbreite dem Tod entronnen bist.
Du hättest jederzeit fliehen und mich im Stich lassen können, aber du hast es nicht getan, weil ich dich brauchte. Du bist mein Freund, Einhorn. Wenn du mich nicht begleiten willst, ist das in Ordnung. Ich werde dich nicht dazu zwingen. Aber ich würde mich freuen, wenn du freiwillig mitkämst.«
Mensch und Einhorn starrten einander an.
»Steig auf«, sagte das Einhorn schließlich. »Wir haben einen langen Ritt vor uns.«
Rupert nickte, setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Noch keine vierundzwanzig Stunden zurück und schon wieder unterwegs. Julia hat Recht, dachte er plötzlich. Wir hätten nie in die Burg zurückkehren dürf en. Wir beide waren glücklich da draußen im Wald. Wir wussten nichts über Haralds Heiratskontrakt und hatten keine Ahnung über den Vormarsch der Finsternis. Ich hätte dir meine Liebe beweisen sollen, Julia. Noch ehe mir mein Bruder dazwischen kam.
Er schüttelte seufzend den Kopf und schaute auf, als er Hufschläge hörte. Der Champion ritt heran und nahm neben ihm Aufstellung, aufrecht im Sattel eines Streitrosses, das an die zehn Handbreit höher war als das Einhorn. Das Tier schien die schwere Rüstung nicht als Bürde zu empfinden.
Imposant, dachte Rupert. Bestens geeignet für Turnierkampfe.
Aber nicht f ür ein Dämonenrudel.
»Rechnen Sie mit Verdruss, Sir Champion?«, fragte er gelassen.
»Immer, Sire. Können wir aufbrechen?«
»Natürlich. Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Sir Champion. Ich bin verletzt, aber einsatzfähig.«
»Ich versuche, professionell zu arbeiten.«
»Eines Tages…«
»… werden Sie was tun, Sire? Mir heimlich Gift in den Becher tun oder mich von hinten erdolchen? Das bezweifle ich; es widerspräche Ihrer Natur. Sie wollen mich im Zweikampf schlagen – so wie vorhin Ihren Bruder Harald. Aber Sie sind nicht gut genug, um mich auf diese Weise zu bezwingen.«
»Darauf würde ich an Ihrer Stelle nicht unbedingt wetten«, sagte Rupert ruhig. »Es gab eine Zeit, da dachte Harald genau wie Sie.«
Der Champion musterte ihn scharf, schwieg aber. Der Prinz hielt seinem Blick stand. Beide spürten, dass sich etwas in ihrer Beziehung verändert hatte, und zum ersten Mal wurde Rupert klar, dass er keine Angst mehr vor dem Champion hatte. So lange Rupert zurückdenken konnte, war der Champion für ihn die Verkörperung des Todes gewesen – ein Mörder mit kalten Augen und einem blutigen Schwert, der eines Tages kommen und ihn holen würde, wie er so viele andere geholt hatte. Vorbei. Rupert hatte mit dem Schwert gegen ihn gekämpft und ihm zwei Treffer zugefügt, trotz denkbar ungünstiger Bedingungen. Auch wenn er letztlich unterlegen war, hatte in den letzten zwanzig Jahren niemand den Champion zum Bluten gebracht. Der Mann war gut, sehr gut sogar, aber er war nicht unschlagbar. Und eines Tages, dachte Rupert, werde ich den Beweis daf ür antreten. Er grinste den Champion spöttisch an, der ihn noch einmal gründlich studierte und dann sein Pferd wendete.
»Einen Augenblick, Sir Champion!«
»Ich bin beschäftigt, Sire.«
»Es ist mir verdammt egal, wie sehr Sie beschäftigt sind, Sir Champion. Wenn Sie mir noch ein einziges Mal den Rücken zukehren, lasse ich Sie enthaupten.«
Der Champion wendete sein Pferd noch einmal und ließ die Zügel los, um die Schwerthand frei zu haben. Ein schwaches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Ich denke, Sie überschätzen Ihren Rang, Prinz Rupert.«
»Tatsächlich? Gestern Abend gaben Sie meinem Vater das Versprechen, sich während der Reise zum Schwarzen Turm meinem Befehl unterzuordnen. Wollen Sie etwa Ihrem König gegenüber wortbrüchig werden?«