Allmählich hatten sich seine Augen so an die Umgebung angepasst, dass er den schmalen Pfad erkannte, der ins Herz des Dunkelwaldes führte, und er bedeutete dem Einhorn, sich wieder in Bewegung zu setzen. Die langsamen, rhythmischen Hufschläge dröhnten gefährlich laut durch die Stille. Es gab nur eine Möglichkeit, die endlose Nacht zu überwinden: einen schnurgeraden, schmalen Weg, der die Finsternis von einer Grenze zur anderen durchschnitt und so alt war, dass kein Mensch mehr wusste, wer ihn angelegt hatte und warum.
Der Dunkelwald existierte seit undenklichen Zeiten, und er behielt seine Geheimnisse für sich. Rupert drehte unruhig den Kopf hin und her, eine Hand ständig am Schwertknauf. Er musste an den Dämon denken, den er im Schlingpflanzenwald bekämpft hatte, und ein Schauer lief ihm plötzlich über den Rücken. Aber das Eindringen in den Dunkelwald war ein kalkuliertes Risiko, denn wenn jemand wusste, wo er einen Drachen finden konnte, dann war es die Nachthexe.
Vorausgesetzt, dass sie nach all den Jahren noch am Leben war. Vor Antritt seiner Reise hatte Rupert zusammen mit dem Hofastrologen die Burg-Archive nach einer Karte durchstöbert, die ihn zu einer Drachenhöhle führen könnte. Sie hatten keine Karte gefunden, was Rupert ungemein erleichterte, aber sie waren auf das offizielle Hofprotokoll gestoßen, das Großvater Eduards Begegnung mit der Nachthexe schilderte. Der erstaunlich kurze Bericht (erstaunlich insofern, als die jüngste Ballade zu diesem Thema aus nicht enden wollenden einhundertsiebenunddreißig Versen bestand) enthielt einen flüchtigen Querverweis auf einen Drachen und den Tipp, dass die verbannte Hexe möglicherweise immer noch in ihrer Hütte im Dunkelwald anzutreffen sei, nicht weit von der Grenze zum Schlingpflanzenwald entfernt.
»Nenn mir einen guten Grund, weshalb sie mir bei meiner Suche helfen sollte«, sagte Rupert zweifelnd. »Immer vorausgesetzt, dass ich so wahnsinnig bin, ein Weib aufzusuchen, das sein Leben lang erwiesenermaßen nach dem Blut anderer Leuten trachtet.«
»Allem Anschein nach war sie deinem Großvater sehr zugetan«, entgegnete der Astrologe geheimnisvoll.
Rupert musterte den Astrologen argwöhnisch und bedrängte ihn, diese Aussage näher zu erläutern, aber der wich ihm wie gewohnt aus. Rupert traute dem Astrologen etwa so weit, wie man in den Wind spucken konnte, aber da er sonst keinerlei Hinweis hatte, wie man an einen Drachen herankam
… Knorrige, krumm gewachsene Bäume ragten bedrohlich aus der Schwärze, als Rupert tiefer in die endlose Nacht ritt.
Die einzigen Laute weit und breit waren die rhythmischen Hufschläge des Einhorns, und selbst diese wirkten durch das unerbittliche Dunkel irgendwie gedämpft. Mehr als einmal ließ er das Einhorn unvermittelt anhalten und spähte angestrengt in die Finsternis, fest davon überzeugt, dass ganz in seiner Nähe etwas Schreckliches lauerte. Aber da war nichts
– außer dem Dunkel und der Stille. Er hatte keine Laterne, und wenn er einen Ast von einem der abgestorbenen Bäume abbrach, um ihn als Fackel zu benützen, zerbröselte ihm das morsche Holz unter den Fingern. Ohne den Wechsel von Tag und Nacht verlor er bald jedes Zeitgefühl und ritt einfach dahin, bis mit einem Mal die dicht gedrängten Bäume zu beiden Seiten zurückwichen. Rupert ruckte an den Zügeln, und das Einhorn blieb stehen. Vor ihnen lag eine kleine Lichtung, begrenzt vom Schimmer phosphoreszierender Schwämme, und in der Mitte dieser Lichtung erhob sich ein dunkler Umriss, der nichts anderes als die Hexenhütte sein konnte. Rupert warf einen Blick zum Nachthimmel, aber er sah weder Mond noch Sterne, nur eine schwarze Leere, die sich endlos auszudehnen schien.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, wisperte das Einhorn.
»Nein«, sagte Rupert. »Aber es ist unsere einzige Chance, einen Drachen zu finden.«
»Wenn du mich fragst, finde ich diesen Plan auch nicht gerade grandios«, murmelte das Einhorn.
Rupert grinste und schwang sich aus dem Sattel. »Du bleibst hier, während ich mir die Hütte ansehe.«
»Du kannst mich hier nicht allein zurücklassen«, beschwerte sich das Einhorn.
»Soll ich dich vielleicht mitnehmen und der Nachthexe vorstellen?«, fragte Rupert.
Das Einhorn hatte mit einem Satz den Weg verlassen und sich hinter dem nächsten Baum versteckt.
»Ich komme so schnell wie möglich zurück«, versprach Rupert. »Lauf inzwischen nicht weg!«
»Das ist der überflüssigste Ratschlag, der mir je erteilt wurde«, maulte das Einhorn.
Rupert zog sein Schwert, holte tief Luft und trat vorsichtig auf die Lichtung hinaus. Seine Schritte klangen in der Stille entsetzlich laut. Er begann zu rennen. Beim Gedanken an den Angriff, den er vermutlich gar nicht mehr mitkriegen würde, kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die Hexenhütte lag geduckt wie ein schlafendes Raubtier da. Aus Tür- und Fensterritzen sickerte ein rötlicher Schein. Rupert kam schlitternd zum Stehen, lehnte sich mit dem Rücken gegen das raue Holz der Hüttenwand und versuchte das Dunkel, aus dem er gekommen war, mit Blicken zu durchbohren, um zu erkennen, ob ihm jemand gefolgt war. Nichts regte sich in der Ebenholzschwärze. Der einzige Laut in der endlosen Nacht war sein rasselnder Atem. Er schluckte trocken, wartete einen Moment, bis er wieder Luft bekam, und klopfte dann sehr höflich an. Ein grellroter Glanz stach ihm in die Augen, als die Hüttentür unvermittelt aufsprang. Eine große dürre Hand mit langen, gekrümmten Fingernägeln schoss hervor und packte ihn an der Kehle. Rupert stieß und schlug wild um sich, konnte aber nicht verhindern, dass er ins Innere der Hütte gezerrt wurde.
Die bucklige Hexe schloss die Tür mit einem Fußtritt und ließ Rupert ohne große Umstände auf den schmutzstarrenden Teppich plumpsen. Dann rieb sie sich die knochigen Hände und kicherte teuflisch, während er sich mühsam aufsetzte und die wunde Kehle massierte.
»War nicht persönlich gemeint«, griente sie. »Aber was tut man nicht alles für sein Image! Wenn ich nicht hin und wieder die garstige Alte gebe, denken die anderen, dass mit mir nicht mehr viel los ist. Aber was suchst du eigentlich hier?«
»Ich dachte, du könntest mir vielleicht weiterhelfen«, krächzte der Prinz.
»Dir weiterhelfen?«, wiederholte die Nachthexe und zog eine schiefe Braue hoch. »Bist du ganz sicher, dass du an der richtigen Tür geklopft hast?« Die schwarze Katze auf ihrer Schulter fauchte und rieb das Fell gegen das lange graue Zottelhaar der Hexe. Die Alte begann sie geistesabwesend zu streicheln.
»Nenn mir einen guten Grund, der mich daran hindern kann, dich in einen Frosch zu verwandeln«, meinte sie dann.
Rupert deutete auf sein Schwert. Die Hexe griente wieder.
»Steck das Ding weg, oder ich mache einen Knoten in die Klinge!«
Rupert dachte einen Moment lang darüber nach, schob dann das Schwert in die Scheide und wagte einen neuen Versuch. »Ich glaube, du hast meinen Großvater gut gekannt.«
»Möglich«, erklärte die Nachthexe von oben herab. »Ich habe in meiner besten Zeit viele Männer gekannt. Wie hieß denn dein Großvater?«
»König Eduard vom Waldkönigreich.«
Die Nachthexe starrte ihn verblüfft an. Dann erlosch jegliches Feuer in ihren Augen. Sie wandte sich langsam ab und ließ sich in einen arg mitgenommenen alten Schaukelstuhl am Feuer sinken.
»Ja«, sagte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihm.
»Ich erinnere mich an Eduard.«
Sie starrte reglos ins Nichts, und Rupert nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln und ein wenig umzusehen. In der Hütte herrschte ein verschwommenes, graues Licht, das von überall zugleich zu kommen schien, obwohl nirgends eine Lampe zu sehen war. Die Wände gingen schief nach außen, und Fledermäuse kreischten hoch oben in den Dachbalken. Der Schatten einer Katze huschte eine Wand entlang, ohne dass er die dazu gehörige Katze entdecken konnte, und etwas Dunkles, Formloses starrte mit glühenden Augen vom rauchgeschwärzten Kamin zu ihm herüber.