Rupert musterte die Nachthexe neugierig. Irgendwie wirkte sie überhaupt nicht mehr gefährlich, seit sie ihn nicht mehr direkt bedrohte. Wie sie so auf ihrem Stuhl hin und her schaukelte, die Katze auf dem Schoß, sah sie aus wie jedermanns Großmutter, eine verschrumpelte grauhaarige alte Dame, den Rücken von den Jahren gebeugt. Sie war entsetzlich dünn, und das Leben hatte tiefe Furchen in ihre Züge gegraben. Das konnte nicht die sagenumwobene Nachthexe sein, die Männerverführerin mit der rabenschwarzen Haarpracht, das Furcht einflößende Geschöpf der Dunkelheit. Vor ihm saß eine müde alte Frau, versunken in Erinnerungen an bessere Zeiten. Sie schaute auf und merkte, dass Rupert sie eingehend betrachtete.
»Ja, schau mich nur an«, sagte sie ruhig. »Vor langer Zeit war ich berühmt für meine Schönheit. So berühmt, dass viele Männer von weither kamen, nur um mir Komplimente zu machen. Kaiser, Könige, edle Ritter – ich hätte sie alle kriegen können. Aber ich wollte sie nicht. Es reichte mir, dass ich
… schön war.«
»Wie viele Jungfrauen mussten für deine Schönheit sterben?«, fragte Rupert scharf.
»Ich habe irgendwann aufgehört, sie zu zählen«, sagte die Hexe. »Es erschien mir damals nicht wichtig. Ich war jung und strahlend, und die Männer umwarben mich; das allein zählte. Wie heißt du, mein Junge?«
»Rupert.«
»Du hättest mich damals sehen sollen, Rupert. Ich war so hübsch. So wunderhübsch.«
Sie lächelte sanft und schaukelte, die Blicke in die Vergangenheit gerichtet.
»Ich war jung und mächtig und machte mir die Finsternis Untertan. Ich errichtete in einer einzigen Nacht einen Palast aus Eis und Diamanten, und feine Damen und Herren von einem Dutzend Höfen kamen, um mir zu huldigen. Ihnen fiel nie auf, dass hier und da ein paar Bauernmädchen aus ihren Dörfern verschwanden. Vermutlich wäre es ihnen auch gleichgültig gewesen.
Und dann tauchte Eduard auf, mit der festen Absicht, mich zu töten. Irgendwie hatte er die Wahrheit herausgefunden und wollte das Waldkönigreich von meiner bösen Macht befreien.« Sie kicherte leise in sich hinein. »Viele Nächte verbrachte er aus freien Stücken in meinen kalten Gemächern. Er war hoch gewachsen, stattlich und tapfer und dachte nicht daran, sich mir zu unterwerfen. Weder die Wunder noch die Schrecken dieser Welt konnten seinen Willen brechen. Wir tanzten in meinem Ballsaal, nur wir beide, in einem weiten, widerhallenden Rund aus glitzerndem Eis, mit Kronleuchtern, die aus einzelnen Stalaktiten geformt waren. Allmählich gewann er mein Herz und ich das seine. Ich war jung und dumm und glaubte, unsere Liebe werde bis in alle Ewigkeit dauern.
Sie dauerte einen Monat.
Ich brauchte frisches Blut, und das konnte Eduard nicht zulassen. Er liebte mich, aber als König trug er die Verantwortung für sein Volk. Er konnte mich nicht töten, und ich konnte mein Wesen nicht verändern. Also wartete ich, bis er schlief, und dann verließ ich meinen Palast und das Waldkönigreich und begab mich hierher, um fortan im Dunkeln zu leben und vor den Augen der Menschen zu verbergen, dass meine Schönheit entschwunden ist.
Ich hätte ihn umbringen und so mein Geheimnis wahren können. Ich hätte ewig jung und schön und mächtig bleiben können. Aber ich liebte ihn. Eduard. Der einzige Mann, den ich je geliebt habe. Vermutlich ist er inzwischen tot.«
»Seit über dreißig Jahren«, sagte Rupert.
»So lange schon«, flüsterte die Hexe. Ihre Schultern sanken nach vorn, und sie zerrte an ihren verkrümmten Fingern.
Sie atmete tief ein und seufzend wieder aus, ehe sie Rupert mit einem müden Lächeln ansah. »Du bist also Eduards Nachfahre. Eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich nicht leugnen.
Was willst du von mir, mein Junge?«
»Ich suche einen Drachen«, erklärte Rupert in einem Tonfall, der zum Ausdruck bringen sollte, dass er nicht scharf darauf war, tatsächlich einen zu finden.
»Einen Drachen?« Die Hexe starrte ihn einen Moment lang verständnislos an, doch dann erhellte ein breites Grinsen ihre verschrumpelten Züge. » Einen Drachen! Potzblitz, du gefällst mir, mein Junge! Seit Jahren hat keiner mehr den Mumm gehabt, einem Drachen auf den Leib zu rücken. Kein Wunder, dass du es gewagt hast, bei mir anzuklopfen.« Sie musterte ihn mit neuem Respekt, während Rupert sich alle Mühe gab, einen bescheidenen Eindruck zu erwecken. »Also schön, mein Schätzchen, heute scheint dein Glückstag zu sein. Du suchst einen Drachen, und ich besitze ganz zufällig eine Karte, die dich auf kürzestem Weg zu einem dieser Untiere bringen wird. Für drei Halbe Blut kannst du sie haben, einverstanden? Ein echtes Schnäppchen.«
Rupert warf ihr einen strafenden Blick zu. Die Hexe zuckte verlegen mit den Schultern.
»War zumindest den Versuch wert. Aber bei Eduards Enkel mache ich natürlich eine Ausnahme. Die Karte gehört dir, ganz umsonst. Wenn ich mich erinnern kann, wo ich das verdammte Ding hingetan habe.«
Sie scheuchte die Katze vom Schoß, zog sich ächzend aus ihrem Schaukelstuhl hoch, humpelte zu einem schäbigen Aktenschrank aus Eiche, der im hintersten Winkel des Zimmers stand, und wühlte in seinen Tiefen. Rupert runzelte unschlüssig die Stirn. Er hatte sich fest vorgenommen, der Nachthexe den Garaus zu machen, falls sich die Gelegenheit dazu ergab, doch obwohl sie ganz lässig zugegeben hatte, mehr Jungfrauen ermordet zu haben, als sie zählen konnte, brachte er es nun nicht übers Herz, seinen Vorsatz auszuführen. So seltsam es klang, tat sie ihm irgendwie sogar Leid; die langen Jahre, die sie allein im Dunkelwald verbracht hatte, waren Strafe genug. Mehr als genug. Die Hexe stand plötzlich vor ihm, und er wich erschrocken zurück, als sie ihm eine zerfledderte Pergamentrolle in die Hand drückte.
»Da, mein Junge, das bringt dich direkt zu ihm. Falls du nicht vorher umkommst. Denn erst mal musst du den Dunkelwald von einem Ende zum anderen durchqueren, und das haben bisher verdammt wenige so geschafft, dass sie danach ihre Ruhmestaten erzählen konnten.«
»Ich bin immerhin bis hierher vorgedrungen«, sagte Rupert zuversichtlich.
»So dicht an der Grenze zum Schlingpflanzenwald gibt es noch eine Spur von Helligkeit«, erklärte die Hexe. »Aber jenseits dieser Lichtung herrscht vollkommene Dunkelheit.
Pass gut auf dich auf, Rupert! Es bläst ein kalter Wind durch die lange Nacht, und er trägt den Geruch von Blut und Tod.
Tief im Dunkelwald regt sich etwas… Grauenvolles. Wenn ich nicht so alt wäre, hätte ich Angst.«
»Ich bin auf das Schlimmste gefasst«, sprach Rupert mit gepresster Stimme und umklammerte unwillkürlich den Schwertknauf.
Die Hexe lächelte müde. »In deinen Adern fließt Eduards Blut. Er glaubte auch, jede Schwierigkeit lasse sich mit kaltem Stahl lösen. Wenn ich dich so ansehe, scheint er wieder vor mir zu stehen. Mein Eduard.« Ihre Stimme zitterte plötzlich. Sie wandte sich von Rupert ab, humpelte stöhnend zu ihrem Schaukelstuhl und ließ sich in die Kissen fallen. »Sieh zu, dass du von hier verschwindest, mein Junge! Geh endlich und such deinen Drachen!«
Rupert zögerte. »Kann ich… noch irgendetwas für dich tun?«
»Geh«, sagte die Nachthexe unwirsch. »Lass mich in Frieden. Bitte.«
Rupert wandte sich ab und verließ die Hütte. Ganz leise schloss er die Tür hinter sich.
Die Nachthexe saß allein vor ihrem leeren Kamin und schaukelte versonnen in ihrem Stuhl hin und her. Nach einer Weile fielen ihr langsam die Augen zu, und sie schlief ein.
Und sie war wieder jung und schön, und Eduard kam zu ihr, und sie tanzten die ganze Nacht hindurch in ihrem Ballsaal aus schimmerndem Eis.