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»Vergiss es! Ich bin ein Einhorn und keine Gemse.«

»Aber es ist die einzige Möglichkeit, nach oben zu gelangen. Wenn du dieses kleine Stück geschafft hast, ist der Rest kinderleicht.«

»Ich denke nicht darüber nach, wie ich nach oben gelangen kann, sondern stelle mir vor, wie ich nach unten stürzen werde. Vermutlich Hals über Kopf, während mir der Wind um die Ohren pfeift.«

Rupert schwang sich mit einem Seufzer aus dem Sattel.

»Also gut. Dann kehrst du eben um und wartest drunten in den Hügeln auf mich. Gib mir zwei Tage Zeit. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin…«

»Rupert«, sagte das Einhorn langsam, »du musst das nicht bis zum bitteren Ende durchstehen. Was hältst du davon, wenn wir umkehren und bei Hofe erzählen, dass wir einfach keinen Drachen finden konnten? Kein Mensch wüsste, dass das nicht stimmt.«

» Ich wüsste es«, erklärte Rupert.

Ihre Blicke trafen sich, und das Einhorn verneigte sich vor dem Prinzen.

»Viel Glück, Sire.«

»Danke«, sagte Rupert und wandte sich rasch ab.

»Und sei vorsichtig«, murmelte das Einhorn. »Es fiele mir sehr schwer, einen neuen Reiter anzulernen.« Es vollführte eine behutsame Wende auf dem engen Pfad und tastete sich die Bergflanke hinunter.

Rupert blieb eine Weile stehen und horchte auf die sich entfernenden Hufschläge. Dem Einhorn drohte in den Hügeln kaum eine Gefahr. Wäre das Geröll nicht gewesen, hätte er sich eine andere Ausrede einfallen lassen, um das Einhorn zurückzuschicken. Den Rest des Abenteuers musste er ganz allein bestehen. Es war nicht nötig, dass sie beide ihr Leben aufs Spiel setzten. Rupert straffte energisch die Schultern und warf einen prüfenden Blick auf das Geröllband, das ihm auf einer Länge von zwölf Metern und einer Breite von drei Metern den Weg versperrte. Es machte einen trügerischen Eindruck. Ein falscher Schritt, und die losen Steine würden sich in Bewegung setzen. Rupert warf einen kurzen Blick in die Tiefe und schluckte. Wenn er erst einmal ins Rutschen geriet, erreichte er die Vorberge vermutlich schneller als das Einhorn. Mit einem säuerlichen Grinsen setzte er einen Fuß auf das Geröll.

Die Steine unter seiner Sohle rollten abwärts, und Rupert wagte nicht zu atmen, bis sie wieder zur Ruhe gekommen waren. Langsam, Schritt für Schritt, einen Fuß dicht vor den anderen gesetzt, arbeitete er sich auf das Geröllband vor, vorsichtig den Untergrund ertastend, ehe er das Gewicht verlagerte. All seinen Anstrengungen zum Trotz trugen ihn die schlitternden Steine immer näher an die Kante, und Rupert wusste, dass er es nicht schaffen würde. Der böige Wind zerrte aufgeregt an seinem Umhang, und er spürte, wie sich das Geröll unter seinen Stiefeln bewegte. Er verlagerte ein wenig das Gewicht, um dem Abwärtsgleiten entgegenzuwirken; das Geröll begann wie Wasser zu strömen und trug ihn unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Rupert warf sich flach zu Boden und grub die Finger tief in die Geröllschicht. Ein Fuß hing bereits über die Kante, als er endlich zu rutschen aufhörte. Er hörte, wie links und rechts von ihm Steine in die Tiefe prasselten.

Nicht einmal anderthalb Meter Geröll befanden sich zwischen ihm und dem festen Felsuntergrund, aber es hätten ebenso gut anderthalb Meilen sein können. Rupert lag reglos da und wagte kaum zu atmen. Er konnte weder vor noch zurück; jede noch so kleine Bewegung würde das Aus bedeuten. Angestrengt dachte er nach, doch erst nach geraumer Zeit dämmerte ihm die Lösung. Eine kleine Bewegung konnte ihn nicht retten, aber wenn er seinen Körper mit aller Kraft nach vorne schnellte, schaffte er es vielleicht. Oder er stürzte in den Tod. Rupert stieß plötzlich ein grimmiges Lachen aus.

Zum Henker mit den Bedenken! Ob er sich hier das Genick brach oder im Kampf mit dem Drachen starb, war im Grunde genommen gleich! Er zog die Knie mit einer langsamen, kontrollierten Bewegung an und stemmte die Zehen in das Geröll. Die kullernden Steine trugen ihn noch etwas näher dem Abgrund entgegen. Rupert atmete einmal tief durch und hechtete dann nach vorn. Die Landung war so hart, dass ihm die Luft wegblieb, aber mit einer der weit ausgestreckten Hände bekam er einen Felsvorsprung zu fassen, den er nicht mehr losließ, obwohl das Geröll seinen Körper in die Tiefe zu zerren versuchte. Einen Moment lang hing sein ganzes Gewicht an dieser einen Hand, während seine Füße hilflos nach einem Halt suchten und eine kleine Steinlawine in die Tiefe donnerte. Dann fand auch die zweite Hand eine Stütze, und langsam zog er sich auf den harten, sicheren Felsenpfad.

Rupert wankte ein paar Meter von der Kante weg, ehe die Reaktion einsetzte. Er brach zusammen, am ganzen Körper zitternd und mit heftig pochenden Schläfen. Der harte Felsenpfad unter seinem Körper vermittelte ihm ein herrliches Gefühl der Sicherheit.

Eine Weile ruhte er aus, doch dann rappelte er sich wieder hoch. Jeder Muskel schmerzte vom Kampf mit dem Geröll, und er hatte sich die Hände und Knie aufgescheuert. Da er ohne die Wasserflaschen, die er dem Einhorn mitgegeben hatte, nicht einmal seine Wunden auswaschen konnte, tat Rupert das Nächstliegende und nahm sie einfach nicht zur Kenntnis. Er schickte lediglich ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie sich nicht entzündeten, denn hier oben gab es aller Voraussicht nach keinen Heiler. Er verdrängte den Gedanken, wandte sich endgültig von dem Geröllband ab und stapfte müde den holprigen Weg entlang, der ihn irgendwann zu seinem Drachen bringen musste.

Einige Zeit später endete der Pfad abrupt und wurde von einer schier endlosen Reihe schmaler Stufen ersetzt, die in die schroffe Felswand gehauen waren. Rupert drehte sich um und spähte in die Tiefe. Jenseits der bestellten Felder war der Wald zu erkennen, weit weg und winzig klein. Rupert stieß einen Seufzer des Bedauerns aus und begann mit dem langen Aufstieg.

Die Stufen waren krumm und holprig, und Ruperts Kreuz und Beine begannen zu schmerzen, als er sich Stunde um Stunde höher kämpfte. Die steinerne Treppe erstreckte sich hinter ihm und vor ihm, so weit das Auge reichte, aber nach einer Weile hatte er seine Lektion gelernt: Er hielt er den Kopf gesenkt und konzentrierte sich nur auf die Stufen direkt vor ihm. Je höher er kam, desto kälter wurde die Luft. Ein scharfer Wind fegte ihm vom Gipfel Eiskörner und Schnee entgegen. Rupert wickelte den dünnen Umhang enger um sich und kletterte verbissen weiter. Heftige Böen zerrten an ihm, und die Augen tränten ihm. Allmählich erstarrten Finger und Zehen, der Atem dampfte in der frostigen Luft, und immer noch erklomm er Stufe um Stufe um Stufe, ohne auf die Kälte, den Sturm und die Schmerzen zu achten.

Er war Prinz Rupert vom Waldkönigreich, und er war ausgezogen, um einen Drachen zu erlegen.

Die in den Fels gehauenen Stufen endeten auf einem schmalen Sims vor einem riesigen Höhleneingang. Rupert stand schwankend da, gleichgültig gegenüber dem Wind, der sich in seinem Umhang verfing. Er spürte nicht, dass sein Atem in der Luftröhre brannte und in den Lungen stach. Die Höhle erinnerte an eine tiefe, mit Dunkelheit angefüllte Wunde in der rissigen Haut des Berges. Rupert bewegte sich langsam darauf zu, obwohl ihm die Knie vor Erschöpfung zitterten. Die Karte der Nachthexe hatte ihn nicht im Stich gelassen; er stand vor seiner ersten Begegnung mit einem Drachen.

Seit seinem Aufbruch hatte er sich gefragt, was er wohl in diesem Augenblick empfände. Ob er… Angst hätte. Aber nun war der große Moment gekommen, und er fühlte, wenn er ehrlich sein sollte, überhaupt nichts. Er hatte sein Wort gegeben, und da war er nun. Er glaubte nicht, dass er den Drachen besiegen konnte, das hatte er von Anfang an nicht geglaubt.