Tief im Innern hatte er immer gewusst, dass er in den Tod ritt. Rupert zuckte mit den Schultern. Der Hof erwartete von ihm, dass er umkam; vielleicht sollte er sich gerade deshalb Mühe geben, am Leben zu bleiben. Er zog sein Schwert und suchte sich die sicherste Stelle auf dem schmalen Felsensims.
Dann verdrängte er den Gedanken an den tiefen Abgrund in seinem Rücken und konzentrierte sich auf die korrekte Form der Herausforderung.
Alles in allem hatte er sich noch nie im Leben weniger heldenhaft gefühlt.
»Abscheuliches Untier, ich, Prinz Rupert vom Waldkönigreich, fordere dich hiermit zum Duell heraus. Tritt hervor und kämpfe!«
Lange Zeit rührte sich gar nichts. Schließlich grollte eine dumpfe Stimme aus den Tiefen der Höhle: »Wie bitte?«
Der Prinz kam sich ein wenig lächerlich vor, als er sein Schwert fester packte und die Herausforderung wiederholte.
Es entstand eine noch längere Pause. Dann tauchte der Drache langsam aus dem Dunkel auf, ein Koloss, der den Höhleneingang vollständig ausfüllte, und Rupert nahm seine schönste Gefechtshaltung an. Ausladende Schwingen umgaben das Untier wie ein gerippter smaragdgrüner Umhang, an der Brust zusammengehalten von grausam gekrümmten Klauenfingern. Der Drache maß von der Schnauze bis zur Schweif spitze gut zehn Meter. Lichtstrahlen glitten schmeichelnd über seine grünen Schuppen. Hoch aufgerichtet stand er da und musterte den Prinzen mit golden glänzenden Augen.
Rupert hob das Schwert, und der Drache grinste breit, wobei er Dutzende ungemein scharfer Zähne enthüllte.
»Hi«, sagte der Drache. »Prächtiger Tag heute, was?«
Rupert blinzelte empört. »Du sollst hier nicht über das Wetter plaudern«, erklärte er dem Drachen. »Du sollst Furcht erregend brüllen, mit den Klauen Staub aufwirbeln und mich dann Feuer speiend angreifen!«
Der Drache dachte darüber nach. Zwei dünne Rauchfahnen stiegen von seinen Nüstern auf. »Warum?«, fragte er schließlich.
Rupert senkte das Schwert, das mit jeder Minute schwerer wurde, und stützte sich darauf. »Nun«, entgegnete er langsam, »das verlangt die Tradition. So war es immer schon.«
»Nicht bei mir«, sagte der Drache. »Warum willst du mich töten?«
»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte der Prinz.
»Dachte ich mir«, brummte der Drache. »Willst du nicht reinkommen?«
Er zog sich vom Höhleneingang zurück, und nach einem kurzen Zaudern folgte ihm Rupert in eine Art Tunnel. Seltsamerweise war er beinahe wütend, dass er nicht kämpfen musste; er hatte sich so lange auf diesen Moment vorbereitet und nun kam alles anders als erwartet. Er fragte sich, ob der Drache sein Spiel mit ihm trieb, doch das kam ihm eher unwahrscheinlich vor. Hätte der Drache ihn umbringen wollen, dann wäre er jetzt bereits tot. Er stolperte unbeholfen den Tunnel entlang, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als das Licht hinter ihm versickerte. Der unbeleuchtete Stollen erinnerte ihn an den Dunkelwald, und er war froh, als ein Stück weiter vorn das warme Rot eines vor sich hin glimmenden Feuers auftauchte. Er beschleunigte seine Schritte und stürmte aus dem Tunnel in eine Felsenkammer von mindestens hundertfünfzig Metern Durchmesser, wo der Drache bereits geduldig auf ihn wartete. Die Wände der Höhle waren mit der größten Schmetterlingssammlung bedeckt, die Rupert je gesehen hatte.
»Ich dachte, Drachen sammelten Gold- und Silberschätze«, sagte Robert und betrachtete staunend die zahllosen, auf Hochglanz polierten Schaukästen.
Der Drache zuckte mit den Schwingen. »Manche sammeln Gold und Silber. Manche sammeln Edelsteine. Ich sammle Schmetterlinge. Sie sind genauso schön, findest du nicht?«
»Doch, doch«, meinte der Prinz besänftigend, als er ein paar Funken aus den Nüstern des Drachen stieben sah. Er schob sein Schwert in die Scheide, kauerte neben dem Drachen nieder, der sich lang auf dem Boden ausgestreckt hatte, und musterte ihn neugierig.
»Was ist?«, fragte der Drache.
»Du bist ganz anders als Drachen, die ich aus Sagen und Märchen kenne«, gab Rupert offen zu.
Der Drache lachte gutmütig. »Märchen stimmen selten.«
»Aber du kannst sprechen!«
»Du auch.«
»Ich bin schließlich ein Mensch…«
»Das ist mir nicht entgangen«, meinte der Drache trocken.
»Schau, die meisten dieser Schauergeschichten, dass wir groß, stark und bösartig sind und aus diesem oder jenem oder gar keinem Grund Menschen fressen, wurden von Drachen erfunden, um die Leute abzuschrecken.«
»Aber…«
»Pass auf«, sagte der Drache und beugte sich plötzlich vor.
»Im Einzelkampf nehme ich es mit jedem Menschen auf, aber gegen ein Heer kann kein Drache etwas ausrichten.« Der Koloss fauchte leise, und seine goldenen Augen starrten an Rupert vorbei in Fernen, die nur er sah. »Einst wimmelte es in den Lüften von Drachen, und alles war uns Untertan. Die Sonne schien warm auf unsere Schwingen, wenn wir über den Wolken schwebten und beobachteten, wie sich tief unter uns die Erde drehte. Wir entrissen dem Gestein mit bloßen Klauen Gold und Silber, und wenn wir brüllten, erbebte die Erde.
Jedes Lebewesen zitterte vor uns. Und dann kam der Mensch mit seinen Schwertern und seinen Lanzen, seinen Rüstungen und seinen Heeren. Wir hätten uns zusammenschließen sollen, solange wir dazu noch in der Lage waren. Aber nein –
wir kämpften gegeneinander, führten unsere kleinlichen Fehden und bewachten unsere kostbaren Schätze. Und einer nach dem anderen fand den Tod. Unsere Zeit war abgelaufen.«
Der Drache grübelte noch eine Weile und schüttelte sich dann. »Warum hast du die Mühe auf dich genommen, mich zum Kampf herauszufordern?«
»Weil es mir befohlen wurde. Ich soll den Nachweis erbringen, dass ich des Königsthrones würdig bin.«
»Willst du mich denn töten?«
Robert zuckte verunsichert die Achseln. »Es wäre einfacher, wenn du das Monster wärst, für das man dich im Allgemeinen hält. Du hast doch sicher Frauen und Kinder ermordet, Höfe niedergebrannt und Vieh gestohlen?«
»Niemals!«, sagte der Drache entsetzt. »Ich bin doch kein Unhold!«
Rupert zog eine Augenbraue hoch, und der Drache tat ihm den Gefallen, etwas zerknirscht dreinzublicken. »Also schön, vielleicht habe ich hier und da ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht und die eine oder andere Jungfrau verspeist, aber das ist lange her. Jeder erwartete das von mir; schließlich war ich ein Drache. Jetzt befinde ich mich längst im Ruhestand.«
Es entstand eine lange Pause. Rupert schaute stirnrunzelnd in das leise knisternde Feuer. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
»Willst du mich denn töten?«, fragte er den Drachen.
»Eigentlich nicht. Ich bin allmählich zu alt für solche Kindereien.«
»Und du willst mich auch nicht fressen?«
»Nein«, erklärte der Drache entschieden. »Von Menschen bekomme ich Sodbrennen.«
Wieder schwiegen sie lange.
»Hör mal«, sagte der Drache schließlich, »wenn ich dich recht verstanden habe, sollst du dich durch das Töten eines Drachen als Held erweisen.«
»Genau«, bestätigte der Prinz.
»Warum bringst du ihnen keinen lebenden Drachen in die Burg? Wäre das nicht noch viel heldenhafter?«
Rupert dachte darüber nach. »Möglich«, sagte er dann zögernd. »Bis jetzt hat noch niemand einen echten lebenden Drachen gefangen…«
»Na bitte – da haben wir es!«
»Würde es dir denn nichts ausmachen, wenn ich dich gefangen nähme?«, fragte Rupert schüchtern.
Der Drachen lachte leise. »Ich sehne mich ohnehin nach Urlaub. In fremde Länder reisen, andere Leute kennen lernen
– genau das, was ich brauche.« Der Drache schaute sich ängstlich um und winkte Rupert etwas näher. »Äh… Prinz…«