Terry Goodkind
Das Reich des Dunklen Herrschers
Für Tom Doherty, stets ein Streiter für das Gute und gegen das Böse
1
Kahlan beugte sich unauffällig zu ihm hinüber und fragte mit gedämpfter Stimme: »Du hast die ganze Zeit gewußt, daß sie da waren, hab ich recht?«
Die Umrisse dreier schwarz gezeichneter Riesenkrähen, die soeben aufgeflogen waren, um ihre allnächtliche Jagd zu beginnen, hoben sich gerade noch erkennbar vor dem Hintergrund des dämmrigen Himmels ab. Ihretwegen war er stehengeblieben, sie hatte er die ganze Zeit beobachtet, während der Rest der kleinen Gruppe in beklommenem Schweigen wartete.
»Ja.« Ohne sich umzudrehen, deutete Richard über seine Schulter. »Dort hinten sind noch zwei von ihnen.«
Kahlan ließ den Blick suchend über das dunkle Felsengewirr wandern, konnte aber keine weiteren Vögel entdecken.
Mit zwei Fingern hob Richard sein Schwert am Silberknauf einige Zoll an, um sich zu vergewissern, daß es locker in der Scheide saß. Als er es wieder zurückfallen ließ, verfing sich ein letzter, flüchtiger Schimmer des warmen Abendlichts in seinem goldenen Umhang. Just in diesem Augenblick schossen zwei weitere der riesigen Vögel über ihre Köpfe hinweg. Einer von ihnen, die Flügel weit gespreizt, stieß einen durchdringenden Schrei aus, als er in einer engen Kurve einmal über ihnen kreiste, wie um die fünf Personen unter ihm am Boden abzuschätzen, ehe er seinen sich rasch in westlicher Richtung entfernenden Kameraden mit kräftigem Flügelschlag hinterhereilte.
In dieser Nacht würden sie reichlich Nahrung finden.
Kahlan vermutete, daß Richard, als er ihnen hinterherschaute, in Gedanken bei seinem Halbbruder Oba war, von dessen Existenz er erst vor kurzem erfahren hatte. Dieser Halbbruder hielt sich gezwungenermaßen einen strammen Tagesmarsch westlich von ihnen auf, an einem der sengenden Sonne so schutzlos ausgesetzten Ort, daß nur wenige sich je dorthin verirrten – und noch weniger jemals von dort wiederkehrten. Dabei war die sengende Hitze nicht einmal das Schlimmste gewesen.
Jenseits dieser trostlosen, menschenleeren Talsenke malte das nachlassende Licht der Dämmerung die Silhouette eines fernen Gebirgskamms an den Horizont, der wie der schwarz verkohlte Rand des Glutofens der Hölle selbst wirkte. Dunkel und unerbittlich wie diese Berge, und ebenso bedrohlich, hielt der aus fünf Vögeln bestehende Schwarm auf das schwindende Licht zu.
Jennsen beobachtete sie verwundert. »Was in aller Welt ...?«
Den Blick noch immer auf die Riesenkrähen gerichtet, nahm Richard ein paar kleine Steinchen vom bröckeligen Felsvorsprung neben sich und schüttelte sie leicht in seiner geschlossenen Hand. »Ich habe diese Vögel zuvor auch noch nie gesehen – bis ich in diese Gegend kam. Einige Leute, mit denen wir gesprochen haben, erzählten, sie seien vor ein oder zwei Jahren das erste Mal hier aufgetaucht – je nachdem, von wem man die Geschichte hört. Aber alle waren sich einig, die Riesenkrähen davor noch nie gesehen zu haben.«
Richard warf die Steinchen hinter sich auf den Pfad, der hier über harten, verkrusteten Boden führte. »Ich glaube, sie gehören zur Familie der Falken.«
Jennsen kauerte sich neben ihre braune Ziege Betty, die sich verängstigt an ihre Beine schmiegte, und tröstete sie. »Falken können es auf keinen Fall sein«. Die beiden weißen Ziegenkinder, die sonst nur herumtollten, tranken oder schliefen, hatten sich stumm und eng aneinander gedrängt unter den Bauch ihrer Mutter verkrochen. »Dafür sind sie viel zu groß.«
Ein freundliches Lächeln ging über Richards Gesicht, und seine Stimme wurde milder, als er fragte: »Soll das etwa heißen, du streitest einfach ab, was du gerade mit eigenen Augen gesehen hast?«
Jennsen streichelte Bettys schlaffe Ohren. »Ich denke, meine aufgestellten Nackenhaare würden mich glatt Lügen strafen.«
Richard sah erneut zum dunklen Horizont. »Mit ihrem schlanken Körper, dem runden Kopf und ihren spitzen Flügeln ähneln diese Riesenkrähen allen mir bekannten Falkenarten. Meist spreizen sie im Gleitflug ihre Schwanzfedern, ansonsten ist ihre Silhouette im Flug eher schmal.«
Jennsen nickte, offenbar war sie mit seiner Beschreibung der charakteristischen Merkmale einverstanden.
»Sie sind schnell, überaus kräftig und angriffslustig«, fügte Richard hinzu. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie eine von ihnen einen Präriefalken mitten im Flug mühelos mit den Krallen packte.«
Seine Schilderung schien allen die Sprache verschlagen zu haben.
Richard war in den schier endlosen Wäldern Westlands aufgewachsen und anschließend Waldführer geworden. Er kannte sich hervorragend mit Tieren und dem Leben in der freien Natur aus, eine Erziehung, die für Kahlan, die in einem Palast in den Midlands groß geworden war immer noch etwas Exotisches hatte. Sie liebte es, sich von ihm die Natur erklären zu lassen, liebte es, seine Begeisterung über die Wunder dieser Welt, die Wunder des Lebens, zu teilen. Natürlich war er seinem früheren Leben als Waldführer inzwischen längst entwachsen. Ihre erste Begegnung mit ihm, damals in den Wäldern seiner Heimat, schien ein ganzes Menschenleben her zu sein, dabei waren seitdem tatsächlich nur wenig mehr als zweieinhalb Jahre vergangen.
Sie hatten nicht nur eben erst von der Existenz seines Halbbruders erfahren, sondern auch herausgefunden, daß Richard eine Halbschwester hatte: Jennsen. Nach allem, was sie seit ihrer Begegnung am Tag zuvor hatten in Erfahrung bringen können, war auch sie in den Wäldern aufgewachsen. Es war rührend zu sehen, wie sie sich in ihrer einfachen, aufrichtigen Art freute, endlich einen nahen Verwandten gefunden zu haben, mit dem sie vieles gemeinsam hatte. Ihr ungläubiges Staunen über Kahlan und deren geheimnisumwitterte Jugend im Palast der Konfessoren in der fernen Stadt Aydindril wurde nur noch übertroffen von ihrer Begeisterung für ihren großen Bruder.
Jennsen und er hatten verschiedene Mütter, gezeugt aber hatte sie ein und derselbe gewalttätige Tyrann: Darken Rahl.
»Ich habe Falken kleine Tiere in Stücke reißen sehen«, sagte Jennsen. »Ich glaube, die Vorstellung, es könnte einen so großen Falken, ganz zu schweigen fünf von dieser Sorte geben, behagt mir ganz und gar nicht.«
Betty, ihre Ziege, schien diese Einschätzung zu teilen.
»Wir werden nachts abwechselnd Wache halten«, entschied Kahlan wie als Antwort auf Jennsens unausgesprochene Befürchtung. Das war zwar nicht der einzige Grund, aber Grund genug.
In der gespenstischen Stille verströmte das leblose Felsgestein ringsum noch immer sengende Hitzewellen. Der beschwerliche Fußmarsch von der Ödnis auf dem Grund des Tales und anschließend durch die umliegende Ebene hatte einen vollen Tag gedauert, trotzdem hatte sich niemand über das mörderische Tempo beschwert. Nur Kahlan hatte von der quälenden Hitze hämmernde Kopfschmerzen. So ungeheuer müde sie auch war, sie war sich bewußt, daß Richard in den letzten Tagen weit weniger Schlaf bekommen hatte als alle anderen. Auch wenn seinem ausgreifenden Schritt davon nichts anzumerken war, stand ihm die Erschöpfung deutlich ins Gesicht geschrieben.
Plötzlich wußte Kahlan, warum ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren: Es war die unnatürliche Stille. Man hörte keine Kojoten kläffen, kein Wolf heulte in der Ferne, keine Fledermäuse flatterten, nirgendwo vernahm man das Rascheln eines Waschbären oder das leise Scharren einer Wühlmaus – selbst das Sirren und Zirpen der Insekten fehlte. Normalerweise war das Verstummen all dieser Geräusche ein Zeichen der Gefahr, die Totenstille hier jedoch war auf die Abwesenheit jeglichen Lebens zurückzuführen; es gab weder Kojoten noch Wölfe oder Fledermäuse, nicht einmal irgendwelches Kerbgetier. Nur selten verirrte sich ein Lebewesen in diese vollkommen dürre Ödnis. Die Nacht war hier so lautlos wie der Sternenhimmel.
Die drückende Stille bewirkte, daß trotz der Hitze ein eisiges Frösteln Kahlans Rücken hinaufkroch.
Sie blickte ein letztes Mal zu den Riesenkrähen hinüber, die vor dem Hauch von Violett am westlichen Himmel gerade eben noch zu erkennen waren. Nicht einmal sie, so schien es, mochten lange in dieser Ödnis verweilen, wo sie nicht hingehörten.