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Endlich war Tom bei ihm, in der einen Hand den Bogen, den Köcher in der anderen. Richard hatte sich entschieden; er rammte das Schwert zurück in die Scheide und langte nach dem Bogen.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung bog er die Waffe und spannte die Sehne, ehe er einen Pfeil aus dem ledernen Köcher zog, den Tom ihm mit seiner großen Hand reichte.

Es tat gut zu spüren, wie seine Muskeln sich unter dem Zug spannten, sich gegen den Widerstand des Bogens stemmten, der soeben seine Energie für den Schuß aufnahm. Es tat gut, sich auf seine Körperkraft, auf sein in zahllosen Übungsstunden erworbenes Können zu verlassen und nicht auf Magie angewiesen zu sein.

Die regungslose Gestalt des nicht vorhandenen Mannes schien dies alles weiterhin zu beobachten. Feine Sandwirbel umwehten sie und markierten ihre äußere Form. Richard richtete seinen zornerfüllten Blick an der rasiermesserscharfen Pfeilspitze entlang genau auf ihren Kopf.

Über ihren Köpfen übertönte das durchdringende Kreischen der Riesenkrähen das Heulen des Windes.

Die Bogensehne an die Wange gepreßt, kostete Richard die Anspannung seiner Muskeln aus, genoß er das Gewicht des Bogens, die sachte Berührung der Federn auf seiner Haut das Gefühl der mit wirbelndem Sand gefüllten Entfernung zwischen Pfeilspitze und Ziel, das Zerren des Windes an seinem Arm. Jede Einzelheit floß in die Gleichung ein, die nach lebenslangem Training keiner bewußten Berechnung mehr bedurfte und dennoch darüber entschied, wo die Pfeilspitze treffen würde, sobald er das Ziel herbeirief.

Die Gestalt stand vor ihm und beobachtete.

Unvermittelt hob Richard den Bogen und rief das Ziel herbei.

Die Welt erstarrte nicht nur, sie wurde völlig still, während die Entfernung zu schrumpfen schien. Sein Körper war ebenso angespannt wie der Bogen, der Pfeil wurde zur Verlängerung seiner zielgerichteten Absicht, das Ziel vor seinem Pfeil zu seinem Daseinszweck. Augenblicklich rief sein bewußter Wille das Ergebnis der Berechnung ab, die nötig war, um Pfeil und Ziel eins werden zu lassen.

Das Wirbeln des Sandes schien ein wenig nachzulassen, als die Riesenkrähen sich mit weit gespreizten Flügeln durch die stauberfüllte Luft kämpften. Richard zweifelte nicht einen Moment, daß der Pfeil am Ende seiner in diesem Augenblick beginnenden Reise ins Ziel treffen würde. Er spürte, wie die Sehne gegen sein Handgelenk schlug, sah, wie die Federn über seiner Faust den Bogen streiften. Der Pfeilschaft bog sich leicht, als er losschoß und da von schnellte.

Noch während der erste ins Ziel traf, zog er bereits den zweiten aus dem Köcher in Toms Hand. Eine Explosion aus schwarzen Federn im tiefroten Morgendämmer. Der Vogel taumelte unbeholfen durch die Luft und schlug unweit der unmittelbar über der Erde schwebenden Gestalt mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden; das blutige weiße Etwas war dabei seinen Krallen entglitten.

Die vier verbliebenen Riesenkrähen schienen außer sich zu sein. Während die Vögel mit kräftigem Flügelschlag an Höhe zu gewinnen versuchten, beschimpfte einer von ihnen Richard mit einem schrillen Schrei. Richard rief das Ziel herbei.

Der zweite Pfeil war in der Luft.

Er bohrte sich in den aufgerissenen Schlund der Riesenkrähe, trat am Hinterkopf wieder aus und brachte den Schrei abrupt zum Verstummen. Das flugunfähige Federbündel stürzte wie ein Stein zu Boden.

Die Gestalt unter den drei noch verbliebenen Riesenkrähen begann sich im wirbelnden Sand zu verflüchtigen.

Als hätten sie vor, die ihnen anvertraute Gestalt im Stich zu lassen, schwenkten die drei verbliebenen Vögel herum und schossen voller Wut auf Richard zu. Er beobachtete sie, das Auge hinter einem kleinen Federbusch verborgen, mit ruhigem Blick. Schon sirrte der dritte Pfeil davon. Der Vogel in der Mitte hob beim Versuch eines Richtungswechsels noch seinen rechten Flügel, dann traf ihn der Pfeil bereits mitten ins Herz. Er drehte sich um seine Längsachse und trudelte durch den aufgewirbelten Sand, bis er ein gutes Stück vor Richard auf den harten, verkrusteten Boden schlug.

Richard zog die Sehne an die Wange und richtete den vierten Pfeil aufs Ziel. Im nu schoß ein neuer Pfeil davon und durchschlug den Körper der vierten Riesenkrähe.

Mit angelegten Flügeln kam die letzte Krähe wütend auf Richard zugeschossen. Kaum hatte dieser einen Pfeil aus dem Köcher gezogen, den der mittlerweile nervös gewordene Tom ihm reichte, da schleuderte der kräftige D’Haraner sein Messer. Richard kam nicht einmal mehr dazu, den Pfeil aufzulegen, als die wirbelnde Klinge sich bereits in den Raubvogel bohrte. Richard mußte einen Schritt zur Seite treten, als der Vogel, nun ein lebloses Bündel, an ihm vorüberschoß und unmittelbar hinter ihm schwer auf den Boden prallte, sich mehrmals überschlug und dabei den windumtosten Felsen mit seinem Blut bespritzte.

Die eben noch vom grausigen Gekreisch erfüllte Morgendämmerung war auf einmal still – bis auf das leise Heulen des Windes, eines Windes, der die schwarzen Federn aufnahm und sie über die endlose Weite unter dem gelblich-roten Himmel davontrug.

In diesem Augenblick trat die Sonne über den Horizont und warf lange Schatten über die Ödnis.

»Wieso verhielten sich diese Riesenkrähen plötzlich so merkwürdig?«, fragte Jennsen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Richard. »Außer den Riesenkrähen hast du also nichts gesehen?«

Jennsen, das Gesicht in den Händen verborgen, lehnte sich gegen ihn und ließ einen Moment lang ihren Tränen freien Lauf. »Ich habe nur die Vögel gesehen«, schluchzte sie, während sie sich mit dem Ärmel die Tränen abwischte.

»Und die Gestalt, die sich im verwehten Sand abzeichnete?«, fragte Kahlan und legte ihr eine tröstende Hand auf die Schulter.

»Gestalt?« Sie sah von Kahlan zu Richard. »Was für eine Gestalt?«

»Sie ähnelte dem Körper eines Menschen.« Kahlan beschrieb die Form mit Hilfe ihrer Hände. »Etwa so, wie die Umrisse eines in einen Umhang mit Kapuze gehüllten Mannes.«

»Außer den Riesenkrähen und gewaltigen Wolken verwehten Sandes hab ich nichts gesehen.«

»Dir ist nicht aufgefallen, daß der Sand eine bestimmte Stelle ausgespart hat?«, fragte Richard.

Jennsen schüttelte beharrlich den Kopf.

»Wenn bei dieser Gestalt Magie im Spiel war«, wandte sich Kahlan in vertraulichem Ton an Richard, »dann kann sie sie eigentlich gar nicht gesehen haben, aber wieso hat sie den Sand nicht bemerkt?«

»Weil die Magie für sie gar nicht vorhanden war.«

»Aber doch der Sand.«

»Ein Blinder kann weder die Farben eines Bildes sehen, obwohl durchaus vorhanden, noch vermag er die von den mit Ölfarbe gesättigten Pinselstrichen herausgearbeiteten Formen zu erkennen.« Verwundert schüttelte er den Kopf, während er Jennsen betrachtete. »Im Grunde wissen wir nicht, inwieweit jemand von Dingen beeinflußt wird, solange er nicht imstande ist, die Magie wahrzunehmen, die auf diese Dinge einwirkt. Soweit wir wissen, ist ihr Verstand möglicherweise gar nicht fähig, eine von Magie erzeugte Struktur wahrzunehmen – weshalb er sie einfach als Sand deutet. Es könnte sogar sein, daß die Struktur der Magie selbst innewohnt und nur wir die unmittelbar an der Hervorhebung der Struktur beteiligten Sandpartikel sehen können, wohingegen sie sämtliche Sandkörnchen sieht, die dahinter verborgene Struktur sich aber ihrem Blick entzieht.

Es wäre sogar denkbar, daß es sich um etwas Ähnliches wie die Grenzen handelt: zwei Welten, die zur gleichen Zeit am selben Ort existieren. Jennsen und wir könnten denselben Gegenstand betrachten und sähen ihn doch mit ganz unterschiedlichen Augen aus einer anderen Welt.«

Kahlan nickte, als Richard neben Jennsen in die Hocke ging, um die klaffende Wunde im drahtigen braunen Fell der Ziege zu untersuchen.

»Das sollten wir besser nähen«, meinte er, an Jennsen gewandt. »Es ist nicht lebensbedrohlich, muß aber dringend versorgt werden.«