Völlig unerwartet stieß sie gegen Richards ausgestreckten Arm. Sie faßte sich erschrocken an die Brust, auf ihr wild pochendes Herz, drehte sich dann herum und gab das Zeichen zum Stehenbleiben an die hinter ihr Gehenden weiter. Nach wie vor herrschte im Wald völlige Stille – nicht einmal das Summen einer Mücke war zu hören.
Richard ließ seinen Rucksack vom Rücken gleiten, stellte ihn auf einen niedrigen Felsen und begann darin herumzusuchen.
Kahlan beugte sich zu ihm herunter und fragte mit leiser Stimme: »Was hast du vor?«
»Feuer machen. Wir brauchen Licht. Gib nach hinten durch, ein paar Männer sollen ihre Fackeln hervorholen.«
Während Richard sein Feuerzeug herausnahm, gab Kahlan Cara leise Anweisungen, die diese wiederum nach hinten weitergab. Augenblicke später näherten sich, Fackeln in den Händen, mehrere Männer auf Zehenspitzen.
Er nahm einen Zweig vom Boden auf und tauchte ihn kurz in ein Gefäß aus seinem Rucksack, anschließend wischte er den Zweig an einer vorspringenden Stelle des Felsens ab.
»Ich habe auf den Felsen hier etwas Harz aufgetragen«, erklärte er den Männern, die sich um ihn versammelt hatten, leise. »Haltet eure Fackeln darüber, damit sie sofort Feuer fangen, wenn ich einen Funken schlage und das Harz sich entzündet.«
Föhrenharz, sorgfältig von fauligen Bäumen gesammelt, war beim Feuermachen im Regen überaus nützlich, da es sich selbst im nassen Zustand leicht mit einem Funken entzünden ließ. Dabei entwickelte es oftmals eine solche Hitze, daß selbst feuchtes Holz rasch Feuer fing.
Im Dunkeln war Richard schon immer in seinem Element gewesen. Nie hatte Kahlan beobachtet, daß er in einer solchen Situation Licht benötigt hätte. Angestrengt starrte sie hinaus in die Nacht und fragte sich, was dort draußen, unsichtbar für sie alle, wohl lauern mochte.
»Cara«, flüsterte Richard, »gebt nach hinten durch, daß alle ihre Waffen ziehen sollen. Sofort.«
Ohne Zögern drehte Cara sich herum, um den Befehl weiterzugeben. Nach einer scheinbar endlosen Zeit völliger Stille, unterbrochen nur vom leisen Scharren von Stahl auf Leder erfolgte die Bestätigung. Sie beugte sich vor zu Richard. »Erledigt.«
Richard sah hoch zu Kahlan und Jennsen. »Ihr beide auch.«
Kahlan zog ihr Schwert, Jennsen ihren Dolch mit dem verzierten R auf dem Silbergriff.
Richard schlug einen Funken. Das Föhrenharz entzündete sich mit einem wütenden Fauchen; alle Fackeln fingen Feuer, und plötzlich wurde es inmitten des tiefdunklen Waldes hell.
Die unvermittelt grelle Helligkeit bewog alle, sich im Kreis zu drehen und um sich zu blicken, um zu sehen, was sich in der Dunkelheit ringsumher verbarg.
Ein entsetztes Aufstöhnen. Überall in den Bäumen ringsum hockten schwarz gezeichnete Riesenkrähen, die die Eindringlinge stumm beobachteten.
In diesem ersten Augenblick unvermittelt aufleuchtender Helligkeit verharrte alles bis auf die flackernden Flammen vollkommen regungslos. Dann stürzten sich die Riesenkrähen plötzlich mit einem wilden Aufschrei auf sie.
Von allen Seiten gleichzeitig fielen die großen Vögel über sie her. Schlagartig war die Nachtluft erfüllt von einem Gewirr aus schwarz glänzenden Federn, wild umsichschlagenden Riesenflügeln, gekrümmten Schnäbeln und reißenden Krallen. Nach der langen Stille war der Lärm der durchdringenden Schreie und schlagenden Flügel ohrenbetäubend laut.
Die Menschen wehrten die Attacke an allen Fronten wild entschlossen ab. Einige Männer wurden zu Boden gestoßen oder gerieten ins Stolpern und stürzten hin, andere versuchten sich unter wüstem Fluchen mit einem Arm zu schützen, während sie gleichzeitig mit dem anderen den Angriff zurückschlugen. Hockte eine Riesenkrähe auf einem ihrer Kameraden, wurde sie augenblicklich in Stücke gehackt.
Überall stach, säbelte und hackte jeder auf die wild anstürmenden Raubvögel ein, nicht wenige benutzten ihre Fackeln als Waffe. Die Nacht war erfüllt vom Kreischen der Vögel, vom Flattern schlagender Flügel vom satten Geräusch der mit tödlicher Wirkung zuschlagenden Waffen. Mit jedem Treffer gerieten Vögel ins Trudeln und stürzten ab, doch schon folgten weitere, die ihren Platz einnahmen. Sie schienen aus den umstehenden Bäumen geradezu auf sie herniederzuprasseln. Verwundete und sterbende, sich in den letzten Zuckungen windende Tiere verwandelten den Waldboden in ein wimmelndes Meer aus schwarzen Federn. Die Heftigkeit dieser Attacke war furchteinflößend.
Und dann war es mit einem Schlag vorbei, war auch das letzte dieser Tiere endgültig verstummt. Aus dem Himmel folgten keine Riesenkrähen mehr nach.
Ein Haufen toter Vögel umgab Richard wie von einem Sturm herangewehter Schnee.
Völlig außer Atem reckten die Männer ihre Fackeln in die Höhe, spähten in das Dunkel jenseits ihres Lichtscheins und hielten Ausschau, ob von oben weiterer Ärger zu erwarten war; doch bis auf das leise Zischen der Fackeln blieb die Nacht totenstill. Die Äste der Bäume ringsumher schienen verlassen.
Kahlan sah, daß Richards Arme mit Kratzern und Schnittwunden übersät waren, und watete durch das Meer aus toten Vögeln zu seinem auf dem Felsen stehenden Rucksack. Der Waldboden ringsum war beinahe knietief mit toten Riesenkrähen bedeckt, und sie mußte erst ein totes Tier von seinem Rucksack stoßen, ehe sie mit der Hand hineinlangen und blind darin suchen konnte, bis ihre Finger gegen das gefaltete Wachspapier mit der Heilsalbe darin stießen.
Als sie sah, daß Richard sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, kam Cara sofort herbeigestürzt und faßte seinen Arm, um ihn zu stützen.
»Was in aller Welt hatte das zu bedeuten?«, fragte Jennsen; sie rang immer noch nach Atem, während sie sich ein paar rote Locken aus ihrem verschwitzten Gesicht strich. »Vermutlich haben sie sich endlich dazu durchgerungen, uns fertig zu machen«, sagte Owen. »Eins steht jedenfalls fest: Sie haben uns ganz offensichtlich wiedergefunden.«
»Aber diesmal gab es einen entscheidenden Unterschied«, keuchte Richard. »Sie sind uns nicht gefolgt, sondern waren bereits hier und haben auf uns gewartet.«
Alle starrten ihn an.
Kahlan unterbrach ihre Tätigkeit, seine Wunden mit Salbe zu bestreichen. »Was willst du damit sagen? Sie sind uns doch zuvor stets gefolgt. Sie müssen uns irgendwie gesehen haben.«
Als Richard sich mit einer Hand auf Caras Schulter abstützen mußte, bemerkte Kahlan, wie unsicher er auf den Beinen stand; manchmal schien er sich kaum aufrecht halten zu können. »Nein. Sie sind uns nicht gefolgt. Am Himmel war nichts von ihnen zu sehen.« Er deutete auf die toten Vögel ringsumher zu seinen Füßen. »Diese Riesenkrähen wußten, daß wir hierher kommen würden. Sie haben uns erwartet und uns aufgelauert.«
Die Vorstellung war erschreckend – wenn sie denn stimmte.
Kahlan richtete sich auf, das Wachspapier in der einen Hand, ein Finger ihrer anderen voller Salbe. »Woher sollten sie gewußt haben, in welche Richtung wir uns wenden würden?«
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Richard. Nicholas, den Mund geöffnet zu einem Gähnen, das keines war, schlüpfte in seinen Körper zurück. Er reckte seinen Hals erst zur einen, dann zur anderen Seite, lächelte; das Spiel bereitete ihm einen Heidenspaß. Köstlich war es gewesen, geradezu erregend. Sein Grinsen wurde breiter, bis seine Zahne sichtbar wurden.
Schwerfällig erhob sich Nicholas und blieb einen Moment unsicher schwankend stehen. Er fühlte sich an diesen Richard Rahl erinnert, der sich, benommen von der Wirkung eines Gifts, das mit tödlicher Unerbittlichkeit sein Werk verrichtete, ebenfalls kaum hatte auf den Beinen halten können. Der arme Kerl benötigte ganz offensichtlich die letzte Dosis des Gegenmittels.
Nicholas, ungeduldig, erneut loszuziehen und weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, öffnete erneut den Mund zu einem Gähnen, das keines war. Nun, er würde noch früh genug wieder zurückkehren und sie beobachten; sie beobachten, wie sie sich vor Sorge den Kopf zerbrachen, wie sie vergeblich zu begreifen versuchten, was ihnen widerfuhr, und sie allmählich immer näher kamen. Nur wenige Stunden noch, dann würden sie bei ihm sein.