»Vielleicht wußte er es ja gar nicht, sondern hatte den Brief schon Tage zuvor geschrieben«, meinte Cara. »Vielleicht wollte er uns damit nur dazu verleiten, übereilt zu handeln.«
»Vielleicht.« Richard deutete mit einer Geste hinter sich. »Aber woher wußte er, daß wir hier sind?«
»Durch Magie?«, mutmaßte Jennsen.
Die Vorstellung, daß Nicholas offenbar bestens informiert und ihnen stets einen Schritt voraus war, erfüllte Richard mit Unbehagen.
»Und woher wußtet Ihr, daß er das Gebäude in Brand stecken würde?«, wandte sich Cara an ihn.
»Ich bin plötzlich aus dem Schlaf hochgeschreckt. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden, und mir wurde schlagartig klar, daß wir das Gebäude sofort verlassen mußten.«
»Demnach hat Eure Gabe also wieder funktioniert?«
»Vermutlich. Das kommt des öfteren vor – manchmal funktioniert sie plötzlich wieder, um mich zu warnen.« Er wünschte nur irgend etwas tun zu können, um sie verläßlicher zu machen. Diesmal, immerhin, war sie es gewesen, sonst wären sie jetzt alle tot.
Tom spähte hinaus in die Nacht. »Ihr glaubt also, Nicholas ist ganz in der Nähe, kannte unser Versteck und hat es in Brand gesetzt?«
»Nein, ich glaube, er möchte uns das nur glauben machen. Er ist ein Zauberer; ebenso gut hätte er ein Zaubererfeuer aus großer Entfernung schicken können. Aber ich bin kein Experte in Magie; möglicherweise hätte er den Brand auch mit anderen Mitteln aus der Ferne legen können.«
Er wandte sich an Owen. »Führ mich zu dem Gebäude, in dem ihr das Gegenmittel versteckt habt und wo Nicholas sich aufhielt, als du ihm das erste Mal begegnet bist.«
Owen machte sich unverzüglich auf den Weg, gefolgt von den anderen aus der kleinen Gruppe.
»Glaubst du, sie wird dort sein?«, fragte Jennsen.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.«
Als sie den Fluß erreichten, waren sie alle außer Atem. Richard packte eine unbändige Wut, als er sah, daß die Brücke eingestürzt und die Uferböschung mit Trümmerteilen übersät war; alles Übrige war offenbar in den dunklen Fluten versunken. Owen und einige seiner Gefährten erklärten, etwas weiter nördlich gebe es eine zweite Brücke, also brachen sie in diese Richtung auf und folgten der Straße, die sich am Flußufer entlangwand.
Sie hatten die Brücke noch nicht ganz erreicht, als ein Trupp Soldaten mit erhobenen Waffen und einem Schlachtruf auf den Lippen aus einer Seitenstraße stürzte.
Die Nacht hallte wider vom unverwechselbaren Klang, als Richards Schwert gezogen wurde. Die Klinge war befreit, nicht aber ihre Magie; angesichts der den Puls beschleunigenden Gefahr war das jedoch nicht weiter von Belang. Richard besaß Zorn im Überfluß und stürzte sich mit einem Aufschrei auf den Gegner.
Der erste Angreifer machte einen Satz nach vorn, doch hinter Richards Hieb lag eine solche Wucht daß er den stämmigen Mann vom Lederharnisch über einer Schulter bis zur gegenüberliegenden Hüfte spaltete. Ohne innezuhalten, wirbelte Richard mitsamt Schwert herum und hatte den von hinten attackierenden Soldaten enthauptet, noch ehe dieser überhaupt den Schwertarm heben konnte. Sofort riß er den Ellenbogen zurück und zertrümmerte einem Angreifer, der ihn von hinten niederstechen wollte, das Nasenbein. Mit einem schnellen Stich entledigte er sich eines weiteren Widersachers, ehe er sich umdrehen und dem Mann hinter ihm, der, die Hände schützend vor dem blutüberströmten Gesicht, inzwischen auf die Knie gesunken war, den Rest geben konnte. Ein kurzes Aufblitzen der Klinge im Mondlicht bescherte ihm den verdienten Tod.
Tom bahnte sich eine blutige Schneise durch die Angreifer, während Cara sie reihenweise mit ihrem Strafer fällte. Überraschte Schmerzensschreie zerrissen die nächtliche Stille, während Richard einem vom Wind getragenen Schatten gleich unter seinen Gegnern wütete.
Augenblicke später senkte sich bereits wieder Stille über die Nacht. Richard, Tom und Cara hatten den gegnerischen Mob ausgeschaltet, ehe auch nur einer ihrer Begleiter auf die Gefahr reagieren konnte, die völlig unvermittelt aus der Dunkelheit über sie hereingebrochen war. Sie hatten kaum Zeit zu verschnaufen, da stürmte Richard bereits weiter Richtung Brücke.
Dort stießen sie auf zwei Soldaten der Imperialen Ordnung, die, ihre Lanzen senkrecht neben sich, nachlässig Wache standen. Zwei Schwerthiebe später überquerte die kleine Gruppe die Brücke, ohne auf weiteren Widerstand zu stoßen, und tauchte in die dunklen Schatten zwischen den eng beieinander stehenden Gebäuden ein. Bei jeder Abzweigung wies Owen Richard die Richtung, während sie weiter auf die Stelle zuhielten, wo Owen das Gegenmittel versteckt und an seiner Stelle jenen Brief vorgefunden hatte.
Als sie das düstere Zentrum dieser Stadt aus winzigen, gedrungenen und meist einstöckigen Häusern erreicht hatten, riß Owen Richard plötzlich zurück und zwang ihn, stehen zu bleiben. »Lord Rahl, dort vorn an der Ecke müssen wir nach rechts abbiegen. Kurz dahinter befindet sich ein Platz, auf dem öfters Versammlungen abgehalten werden. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses Platzes werdet ihr ein Gebäude sehen, das höher ist als alle anderen ringsum. Dort ist es. Von einer kleinen Seitenstraße unmittelbar daneben geht eine Gasse ab, die hinter dem Gebäude vorbeiführt. Auf diesem Weg bin auch ich beim ersten Mal in das Gebäude gelangt.«
Richard nickte. »Gehen wir.«
Er brach auf ohne abzuwarten, ob die übermüdeten Männer ihm folgten. Es dauerte nicht lange, und geradeaus vor ihm lag der von Bäumen und Bänken gesäumte Platz. Das Gebäude drüben auf der anderen Seite lag in Trümmern; nur noch ein paar rauchende Balken waren von ihm übrig. Eine kleine Menschenmenge hatte sich eingefunden und begaffte die Stelle, wo Stunden zuvor offenbar noch ein gewaltiges Feuer gewütet hatte.
»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Jennsen entsetzt. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um den quälenden Gedanken, der jedem von ihnen sofort durch den Kopf schoß, nicht laut auszusprechen.
»Sie war bestimmt nicht dort«, antwortete Richard auf ihre unausgesprochene Befürchtung. »Nicholas hätte sie gewiß nicht hierher gebracht, nur um sie umzubringen.«
»Aber warum dann das?«, fragte Anson. »Warum sollte er das Gebäude niedergebrannt haben?«
Richard sah zu, wie die Rauchfahnen in der kühlen Nachtluft langsam kräuselnd gen Himmel stiegen, wie all seine Hoffnungen sich in Rauch auflösten. »Um mir zu verstehen zu geben, daß er sie in seiner Gewalt hat und ich sie niemals finden werde.«
»Lord Rahl«, raunte Cara ihm leise zu, »ich denke, wir sollten besser von hier verschwinden.«
Erst jetzt bemerkte Richard, daß in den Schatten rings um das niedergebrannte Gebäude Hunderte Soldaten lauerten, die zweifellos nur darauf warteten, sie zu ergreifen.
»Genau das hatte ich befürchtet«, sagte Owen. »Deswegen habe ich uns auf Umwegen in die Stadt geführt. Seht ihr die Straße dort drüben, wo es von Soldaten nur so wimmelt? Das ist die Verlängerung der Brücke, über die wir gekommen sind.«
»Wieso sind sie stets bestens informiert, wo wir uns befinden, wohin wir gehen und wann?«, flüsterte Jennsen verzweifelt.
Cara packte Richard am Hemd und wollte ihn zurückziehen. »Es sind zu viele; abgesehen davon wissen wir nicht wie viele außerdem noch in der Nähe sind. Wir müssen uns zurückziehen.«
Richard gestand es sich nur äußerst widerstrebend ein, aber sie hatte recht.
»Wir haben Männer die auf uns warten«, erinnerte ihn Tom. »Und zu denen noch viele weitere stoßen werden.«
Richards Gedanken rasten. Wo konnte sie nur sein?
Schließlich nickte er. Noch im selben Augenblick packte Cara ihn beim Arm, und schon hasteten sie zusammen in den Schutz der Dunkelheit.
59
Was ihnen hier bevorstand, war etwas völlig anderes als bisher. Es würde eine Schlacht von einer Größenordnung werden, wie sie ihnen bislang unbekannt war. Schlimmer, sie würde in einer Stadt stattfinden, die sich den Zielen der Imperialen Ordnung größtenteils freiwillig verschrieben hatte. Von der Bevölkerung war demnach keine große Hilfe zu erwarten.