»Wir warten nur auf Euch, Lord Rahl«, sagte Cara.
Genau wie Kahlan.
61
»Dort drüben, Lord Rahl. Der Bach, der aus den Hügeln kommt, wird uns bis dicht an das Lager der Imperialen Ordnung heranführen. Jetzt ist es nicht mehr weit, nur noch über diese Hügelkette und dann weiter bis zu diesen Bergen dort.« Er deutete nach rechts hinüber. »In dieser Richtung liegt, gar nicht weit von hier, mein Heimatort Witherton.«
Richard schwenkte ein wenig nach links und hielt auf die am Fuß eines sanften Anstiegs beginnenden Wälder zu. Sie erreichten den Waldrand genau in dem Moment als die orangefarbene Sonnenscheibe hinter den schneebedeckten Gipfeln der Berge unterging.
»Also gut«, stieß Richard außer Atem hervor, als sie auf eine kleine Lichtung gelangten. »Hier schlagen wir unser Lager auf. Jennsen, Tom, ihr beide sowie die übrigen Männer bleiben hier. Bereitet etwas von dem Fleisch zu, während ich mich mit Owen und Cara auf den Weg mache, um die Festung auszukundschaften und mir zu überlegen, wie wir hineingelangen können.«
»Was sollen wir Euch zu essen machen, Lord Rahl?«, wollte Tom wissen.
Die Vorstellung, Fleisch zu essen, erfüllte Richard geradezu mit Ekel. Nach all den blutigen Kämpfen mußte er mehr denn je darauf achten, daß seine Gabe im Gleichgewicht blieb.
»Was immer wir dabeihaben, solange es nur kein Fleisch ist. Bis zu unserer Rückkehr habt ihr etwas Zeit; ihr könnt also einige Gerstenfladen backen und dazu vielleicht Reis und ein paar Bohnen kochen.«
Tom versprach, sich darum zu kümmern. Richard schickte sich bereits an, Owen hinterherzueilen, als Cara ihm die Hand auf die Schulter legte. So unglücklich wie in diesem Augenblick hatte er sie noch nie gesehen.
»Werdet Ihr auch durchhalten, Lord Rahl?«
Er traute sich nicht, ihr zu gestehen, welch unerträgliche Schmerzen ihm seine Gabe bereitete, oder daß er bereits angefangen hatte, Blut zu husten. »Im Augenblick geht es mir ganz gut.« Als sie sich, zwei Stunden später, schließlich wieder ins Lager schleppten, war das Fleisch am Spieß gar, und einige der Männer hatten bereits gegessen und waren soeben im Begriff, sich in ihre Decken einzurollen, um etwas zu schlafen.
Erfreulicherweise hatte Richard seinen toten Punkt überwunden; er war sicher, daß sie Kahlan ganz nahe gewesen waren. Um so quälender hatte er es empfunden, umkehren und den Ort, wo Nicholas sie gefangen hielt, wieder verlassen zu müssen – aber er mußte seinen Verstand gebrauchen. Voreiliges, unüberlegtes Handeln konnte nur in einem Fehlschlag enden; damit wäre Kahlan nicht geholfen.
Richard wurde von Bedürfnissen getrieben, die tiefer gingen als Nahrungsaufnahme oder Schlaf, aber als er Owen ermattet am Feuer niedersinken sah, wurde sogar ihm klar, daß er und Cara erschöpft waren und obendrein wahrscheinlich völlig ausgehungert. Cara hatte es, statt sich hinzusetzen, vorgezogen, nicht von seiner Seite zu weichen; weder ließ sie zu, daß er sich aus ihrem behütenden Schutz entfernte, noch würde sie je ein Wort der Sorge über sich oder ihre Bedürfnisse verlieren.
Damals, als alles angefangen hatte, hätte er sich niemals träumen lassen, daß er sich einer Mord-Sith jemals so verbunden fühlen würde.
Jennsen war sofort auf den Beinen und eilte ihm entgegen. »Laß dir helfen, Richard. Komm her und setz dich.«
Richard ließ sich in das Gras neben dem Lagerfeuer fallen. Sofort war Betty bei ihm und bettelte um einen Platz an seiner Seite. Er erlaubte ihr, sich neben ihn zu legen.
»Nun?«, fragte Tom. »Was haltet Ihr von der Festung?«
»Ich weiß nicht recht. Sie besteht aus massiven Palisaden, vor denen man Gräben ausgehoben hat. Und das gesamte Gelände ist mit Fußangeln und Fallen gesichert. Außerdem gibt es ein Tor – ein richtiges Tor.« Richard seufzte und rieb sich die Augen. Sein Blick trübte sich zusehends, so daß es ihm immer schwerer fiel, Dinge zu erkennen. »Etwas Genaues habe ich mir noch nicht überlegt.«
Der Geruch des gerösteten Fleisches löste bei ihm Übelkeit aus, was das Nachdenken zusätzlich erschwerte. Richard nahm ein Stück Fladenbrot und die Schale mit Reis und Bohnen, die Jennsen ihm reichte, aber der Anblick des Fleisches und, mehr noch, sein Geruch machten es ihm unmöglich, etwas zu sich zu nehmen.
Er stand wieder auf. »Ich mache einen Spaziergang.« Er wollte ihnen das Abendessen nicht verderben; vor allem sollten sie sich nicht schuldig fühlen, weil sie in seiner Gegenwart Fleisch aßen. »Ich brauche ein wenig Zeit für mich allein, um in Ruhe nachzudenken.«
Mit einem Wink bedeutete Richard der Mord-Sith, sich wieder hinzusetzen und sich nicht von der Stelle zu rühren. »Eßt ruhig«, trug er ihr auf. »Ihr nützt mir nur, wenn Ihr bei Kräften bleibt.«
Richard entfernte sich ein Stück zwischen die Bäume, lauschte auf das Zirpen der Grillen und betrachtete die Sterne durch das dichte Laubdach. Es tat gut, allein zu sein und nicht ständig mit irgendwelchen Fragen behelligt zu werden. Auf die Dauer war es anstrengend, wenn sich alle immer nur auf ihn verließen.
Bei einer umgestürzten alten Eiche fand er ein ruhiges Plätzchen; dort ließ er sich nieder, lehnte sich gegen den Stamm und wünschte sich, nie wieder aufstehen zu müssen. Wäre Kahlan nicht gewesen, hatte er es gewiß auch nicht getan. Richard fühlte eine Träne über seine Wange laufen. Alles drohte ihm, jetzt, da er die einzelnen Teile nicht mehr zusammenhalten konnte, aus den Fingern zu gleiten. Der Kloß in seiner Kehle machte es fast unmöglich; Luft zu holen.
»Was soll ich nur tun, Kahlan?«, fragte er in seinem verzweifelten Elend leise. »Ich brauche dich so sehr. Was soll ich bloß tun?«
Er war am Ende aller Hoffnung angelangt.
Nathans völlig unerwartetes Auftauchen hatte ihn noch einmal glauben gemacht, Hilfe sei greifbar nahe. Doch dieser einstmals so leuchtende Hoffnungsschimmer war längst erloschen. Nicht einmal ein mächtiger Zauberer vermochte ihm jetzt noch zu helfen.
Mächtiger Zauberer...
Kaja-Rang.
Richards Körper versteifte sich.
Die Worte, die ihm Kaja-Rang hatte zukommen lassen, die beiden Worte, die den Granitsockel jener Statue zierten, gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Taiga Vassternich.
Erweise dich des Sieges würdig.
»Bei den Gütigen Seelen ...«, stieß er leise hervor.
Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
62
Mit Interesse beobachtete Nicholas, wie Lord Rahl sich nach seinem verzweifelt geflüsterten Gebet an die Gütigen Seelen wieder zu seinen Leuten zurück in das kleine Lager begab. Traurig, unendlich traurig, daß dieser Mann so bald schon sterben würde. Bald würde er mit seinen Gütigen Seelen vereint sein ... im Totenreich des Hüters.
Er genoß dieses Spiel in vollen Zügen. Dieser beklagenswerte Lord Rahl wirkte so verloren und so verwirrt. Er hätte dieses Spiel gerne, so unendlich gerne, noch eine Weile so weitergetrieben. doch Lord Rahl blieb nur noch so wenig Zeit. Wirklich traurig.
Freilich würde nach dem Tod Lord Rahls, wenn auch dieses letzte kleine Hindernis aus dem Weg geräumt wäre, der Spaß sogar noch zunehmen. Jagang hielt diesen armseligen Burschen für gewitzt und erfinderisch: Unterschätzt ihn nicht, hatte er ihn gewarnt. Jagang mochte dem großen Richard Rahl vielleicht nicht gewachsen sein, Nicholas der Schleifer war es allemal.
Das Entzücken über die hoffnungsfrohe Aussicht auf Lord Rahls baldigen Tod hob seine Stimmung. Das würde ein Spektakel werden; ein würdiges Finale im Spiel des Lebens. Jeden Moment würde der letzte Vorhang fallen. Nicholas liebte es, wenn Geschichten traurig endeten; er konnte es kaum erwarten, den letzten Akt aufgeführt zu sehen.