In den Bergen näherte sich die goldene Sonne dem Horizont, und die Wolken waren plötzlich durchzogen von goldenen Streifen. Aus der Entfernung wirkte die Stadt tief unten prachtvoll wie immer, doch Zedd wußte, daß sie mittlerweile völlig menschenleer war, ein Ort ohne Einwohner, die ihn hätten mit Leben füllen können.
»Chase, Zedd!«, rief Rachel aus der offenen Tür. »Der Eintopf ist fertig.«
Zedd warf seine dürren Arme in die Luft. »Wird auch allmählich Zeit, verdammt! Man könnte ja glatt verhungern, bis so ein Eintopf endlich gar ist.«
Rachel stemmte ihre mit dem Holzlöffel bewehrte Hand in die Hüfte und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Wenn du weiter solche schlimmen Wörter gebrauchst, kriegst du überhaupt nichts zu essen.«
Chase sah zu Zedd hinüber und stieß einen Seufzer aus. »Und Ihr glaubt, Ihr hättet Sorgen. Man sollte nicht meinen, daß eine kleine Göre, die mir kaum bis an die Gürtelschnalle reicht, eine solche Plage sein kann.«
Zedd folgte Chase zur Türöffnung in der massiven Steinmauer. »Ist sie immer so anstrengend?«
Chase zauste Rachel im Vorübergehen das Haar. »Immer«, vertraute er ihm an.
»Ist der Eintopf überhaupt etwas geworden?«, erkundigte sich Zedd. »Ist er wirklich so gut, daß es sich lohnt, dafür auf Kraftausdrücke zu verzichten?«
»Sobald es schwierig wurde, hat Friedrich mir geholfen«, sagte Rachel. »Und er meint, er ist köstlich.«
»Nun, wir werden sehen«, sagte Chase.
Rachel drehte sich herum und drohte ihm mit dem hölzernen Kochlöffel. »Aber erst mußt du dir die Hände waschen. Ich hab dich einen Toten über die Mauer schmeißen sehen. Du darfst dich erst an den Tisch setzen und essen, wenn du dir die Hände gewaschen hast.«
Chase warf Zedd einen bemüht nachsichtigen Blick zu. »Irgendwo da draußen läuft in diesem Moment ein kleiner Junge herum und hat seinen Spaß, ohne sich der traurigen Tatsache bewußt zu sein, daß er eines schönen Tages das liebreizende Fräulein ›Wasch-dir-bloß-die-Händevor-dem-Essen‹ ehelichen wird.«
Zedd mußte schmunzeln, daß Chase Rachel wie eine Tochter bei sich aufgenommen hatte, war so ziemlich die beste Lösung gewesen, die Zedd sich hatte wünschen können. Rachel hatte es damals ebenso empfunden, und es sah ganz so aus, als hätte sich bis zu diesem Tag nichts daran geändert. Sie war geradezu vernarrt in ihn.
Als sie schließlich vor dem behaglichen Kaminfeuer am Tisch saßen und Zedd sich seine mittlerweile dritte Portion Eintopf schmecken ließ, konnte er sich nicht erinnern, wann ihm die Burg der Zauberer zuletzt so wundervoll erschienen war. Und das alles nur, weil sie endlich wieder ein Kind und ein paar liebe Freunde beherbergte.
Friedrich hatte schnell erkannt, daß er zu spät gekommen war. Er hatte seinen Kopf gebraucht und war kurz entschlossen zu Chase geeilt, jenem alten Freund, von dem er Richard hatte erzählen hören.
Während Chase sofort losgezogen war, um Zedd und Adie zu Hilfe zu eilen, war Friedrich in die Burg zurückgekehrt, um die Leute auszuspionieren, die sie eingenommen hatten. Dort angekommen, hatte er, peinlich darauf bedacht, allen Schwestern aus dem Weg zu gehen, die Augen offen gehalten, so daß er Chase und Zedd wertvolle Informationen über die Stärke der Besatzer und ihren alltäglichen Tagesablauf hatte liefern können. Anschließend hatte er sie nach Kräften bei der Rückeroberung unterstützt.
Zedd mochte ihn. Nicht nur, weil er beängstigend geschickt mit einem Messer umzugehen wußte, sondern auch, weil es sich sehr unterhaltsam mit ihm plaudern ließ. Da er selbst einmal mit einer Hexenmeisterin verheiratet gewesen war, konnte er sich frei von jeglicher Befangenheit, die manch anderer gegenüber Zauberern an den Tag legte, mit Zedd unterhalten. Zudem hatte er sein ganzes Leben in D’Hara verbracht, was es ihm ermöglichte, ihnen allerhand nützliche Informationen zu liefern.
Rachel hielt die geschnitzte Figur eines Falken in die Höhe. »Sieh mal, was Friedrich für mich gemacht hat, Zedd. Hast du jemals eine so schöne Schnitzerei gesehen?«
Zedd lächelte. »Nein, bestimmt nicht.«
»Das ist doch nichts Besonderes«, wehrte Friedrich ab. »Hätte ich ein wenig Blattgold, könnte ich sie dir vergolden. Damit habe ich mir früher meinen Lebensunterhalt verdient.« Dann fügte er lächelnd hinzu: »Bis Lord Rahl mich zum Grenzposten ernannt hat.«
»Wißt Ihr«, wandte sich Zedd beiläufig an die beiden Männer, »zur Zeit ist die Burg eher durch Eindringlinge ohne Magie gefährdet als durch solche mit. Meine Wenigkeit mag einen guten Schutz gegen jene bieten, denen mit Magie beizukommen ist, nicht aber gegen all die anderen.«
Chase nickte. »Da ist etwas dran.«
»Nun, die Sache ist die. Ich dachte mir, da es keine Grenze mehr gibt, dafür aber ständig Schwierigkeiten hier, würdet ihr beide vielleicht die verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen wollen, bei der Sicherung der Burg der Zauberer zu helfen. Ich bin für diese Aufgabe längst nicht so geeignet wie jemand, der in diesen Dingen ausgebildet ist.« Zedd beugte sich vor, die Stirn eindringlich gerunzelt. »Es wäre wirklich überaus wichtig.«
Chase hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und kaute behäbig einen Bissen Zwieback. Schließlich rührte er mit seinem Löffel in der Schale und sagte: »Nun, wenn Jagang die nicht mit der Gabe Gesegneten dazu benutzen würde, dieses Gemäuer erneut in seine Gewalt zu bringen, könnte dies katastrophale Folgen haben.« Er dachte einen Moment darüber nach. »Emma wird es gewiß verstehen.«
Zedd zuckte die Achseln. »Warum holst du sie nicht her?
Chase sah ihn verwundert an. »Hierher?«
Der Zauberer deutete um sich. »Geräumig genug ist die Burg doch allemal.«
»Aber wohin sollen wir mit unseren Kindern?« Chase lehnte sich zurück. »Alle meine Kinder, hier in der Burg, das wäre dir bestimmt zu aufreibend, Zedd – sie würden überall herumtoben und in den Fluren spielen. Es würde dich in den Irrsinn treiben. Außerdem«, fügte er mit einem gespielt finsteren Seitenblick auf Rachel hinzu, »ist eines häßlicher als das andere.«
»Nun, eine Belastung wäre es zweifellos«, gab Zedd ihm unumwunden Recht, »aber schließlich geht es vornehmlich um den Schutz der Burg. Und dafür ist wohl kaum ein Opfer zu groß.«
»Was meinst du, Rachel?«, fragte Chase schließlich. »Wie würde es dir gefallen, hier in diesem alten, staubigen Gemäuer bei Zedd zu wohnen?«
Rachel kam sofort angerannt und schlang ihm ihre Arme ums Bein. »Au ja, bitte. Das wäre einfach prima.«
Chase seufzte. »Damit wäre die Sache wohl entschieden. Aber du mußt immer schön artig sein und darfst Zedd nicht stören, indem du zu viel Krach machst.«
»Versprochen«, sagte Rachel. Dann sah sie mit besorgter Miene hoch zu Zedd, »muß Mutter wieder durch diesen engen Tunnel in die Burg hineinkriechen, wie damals?«
Zedd lachte amüsiert. »Aber nein, diesmal lassen wir sie zur Vordertür herein, wie es sich für eine Dame geziemt.« Er wandte sich an Friedrich. »Was meint Ihr, Grenzposten? Wärt Ihr bereit, Richards Anordnung weiterhin zu befolgen, indem Ihr hier bleibt und bei der Bewachung der Burg helft?«
Friedrich ließ den geschnitzten Vogel um eine seiner Flügelspitzen kreisen und dachte nach.
»Vielleicht würde Euch ein Posten als offizieller Vergolder der Burg der Zauberer reizen? Blattgold gibt es hier zur Genüge. Und wenn eines Tages die Einwohner Aydindrils zurückkehren, hättet Ihr auch einen festen Kundenstamm.«
Friedrich starrte nachdenklich auf den Tisch. »Ich weiß nicht. Dieses eine Abenteuer war ja gut und schön, aber seit dem Tod meiner Frau Althea habe ich ein wenig das Interesse an den Dingen verloren.«
Zedd nickte verständnisvoll. »Das kann ich Euch nachempfinden. Ich war früher auch verheiratet. Trotzdem, ich glaube, es würde Euch gut tun, für eine Arbeit bezahlt zu werden, die auch gebraucht wird.«
Friedrichs Miene hellte auf. »Also gut, einverstanden. Ich nehme Euren Posten an, Zauberer.«
»Gut«, freute sich Chase. »Dann habe ich jemanden, der mir hilft, unartige Kinder ins Verlies zu sperren.«