»Das wäre völlig unmöglich gewesen. Obwohl das betreffende Gebiet nach wie vor der Welt des Lebens angehörte, war dort jegliches Leben unmöglich, da es gleichzeitig Teil des Totenreichs war. Was immer sich dort befand, wäre demnach vom Tod berührt worden.«
Cara blickte an dem schnurgeraden Streifen bar jeden Lebens entlang, der sich flirrend in der Ferne verlor. »Und was denkt Ihr nun? Daß dies eine Grenze ist?«
»Nein, war.«
Caras Blick wanderte von seinem Gesicht zu Kahlan, und von dort wieder in die Ferne »Die was voneinander trennte?«
Am Himmel kam ein Schwarm schwarz gezeichneter Riesenkrähen in Sicht, die sich von den Luftströmungen in großer Höhe tragen ließen und lautlos ihre Kreise zogen.
»Ich weiß es nicht«, mußte Richard zugeben.
Er richtete den Blick wieder nach Westen an dem sacht abfallenden Hang entlang, der von den Bergen zu jenem Ort zurückführte, den sie wenige Tage zuvor verlassen hatten.
»Aber seht doch.« Richard deutete mit einer Handbewegung hinaus in die verbrannte Ödnis, aus er sie gekommen waren. »Er reicht zurück bis zu den Säulen der Schöpfung.«
Wie der Bewuchs in dieser Richtung immer spärlicher wurde, ehe er schließlich ganz aufhörte, so endete auch der vollkommen leblose Streifen. Er war von der umliegenden Wüste nicht mehr zu unterscheiden, weil entlang der ehemaligen Grenzlinie keinerlei Spuren von Leben existierten.
»Wie weit er tatsächlich reicht, läßt sich unmöglich sagen. Soweit ich weiß, könnte er glatt bis ins Tal selbst zurückführen.«
»Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr«, meinte Kahlan. »daß er möglicherweise den Grenzen oben in der Neuen Welt zwischen Westland, den Midlands und D’Hara geähnelt haben mag, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber die Seelen mögen mich holen, ich begreife einfach nicht, wieso er ausgerechnet bis zu den Säulen der Schöpfung führen sollte. Das erscheint mir doch mehr als seltsam.«
Richard wandte sich abermals herum; er blickte wieder nach Osten, in die Richtung, auf die sie zuhielten, zu der faltigen, grauen Wand des Gebirges, das sich steil über der endlosen Weite der Wüste erhob, und betrachtete den fernen Einschnitt etwas nördlich jener Stelle, wo die Grenzlinie auf ebenjene Berge traf.
Dann schaute er wieder nach Süden, wo der Wagen noch immer holpernd auf die Berge zusteuerte.
»Wir sollten zusehen, daß wir die anderen einholen«, meinte er schließlich. »Ich muß dringend an der Übersetzung des Buches weiterarbeiten.«
9
Die unheimlich anmutenden steilen Gipfel rings um Richard erglühten unter der sanften Berührung der letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne. Wahrend er den einsamen Rand der himmelwärts ragenden Berge dahinter aufmerksam beobachtete, verdunkelten sich die langen Schatten im bernsteinfarbenen Licht; steinernen Wächtern gleich säumten Zacken rötlichen Gesteins die unteren Gefilde der trostlosen Vorberge, so als lauschten sie auf das hallende Knirschen seiner Schritte im mäandernden Kiesbett des Flusses.
Richard war nach Einsamkeit zumute gewesen, um nachdenken zu können, also war er allein losgezogen, um das Gelände zu erkunden.
Zu seiner großen Enttäuschung hatte ihm das Buch bislang noch nichts verraten, was ein wenig Licht in die rätselhafte Existenz der eigenartigen Grenzlinie hätte werfen können – ganz zu schweigen von der Verbindung zwischen seinem Titel, dem Ort mit Namen »Säulen der Schöpfung« sowie den nicht mit der Gabe geborenen Menschen wie Jennsen. Der Anfang des Buches, soweit er ihn bisher übersetzt hatte, schien im Wesentlichen eine historische Niederschrift zu sein, die sich mit unvorhergesehenen Ereignissen im Zusammenhang mit dem Auftreten der »Säulen der Schöpfung«, wie Menschen wie Jennsen genannt wurden, sowie den ausnahmslos gescheiterten Versuchen, diese »Unglücklichen« zu »heilen«, befaßte.
Bislang deutete nichts darauf hin, daß ihm das Buch irgendwann irgendwelche Antworten liefern würde, nichtsdestoweniger schien der sich nur allmählich entwickelnde Bericht auf einen Punkt zuzusteuern, der ihn zunehmend mit Besorgnis erfüllte. Gern hätte er einige Kapitel übersprungen, doch frühere Erfahrungen hatten gezeigt, daß dies oft mehr Zeit kostete als sparte, weil dadurch ein Verständnis des Gesamtzusammenhangs eher behindert wurde – was wiederum zu vorschnellen Schlüssen verleitete. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einfach durchzubeißen.
Nachdem er den ganzen Tag gearbeitet und sich intensiv mit dem Buch beschäftigt hatte, hatte er schließlich rasende Kopfschmerzen bekommen. Zuvor waren diese mitunter tagelang ausgeblieben, doch jetzt schienen sie mit jedem Auftreten stärker zu werden. Er hütete sich davor, Kahlan von seiner Befürchtung zu erzählen, er könnte es vielleicht nicht bis zum Brunnen der Sliph in Tanimura schaffen, und zermarterte sich neben der Arbeit an der Übersetzung auch noch den Verstand auf der Suche nach einer Lösung dieses Problems.
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Schlüssel zu den von der Gabe ausgelösten Kopfschmerzen sein mochte, dennoch beschlich ihn das beklemmende Gefühl, daß dieser womöglich bei ihm selbst lag. Er befürchtete, es könnte sich um ein Problem der Ausgewogenheit handeln, das er einfach übersah. Einmal, als er gerade allein unterwegs war, hatte er sogar seine Zuflucht darin gesucht, sich auf den Boden zu setzen und zu meditieren, wie es ihm die Schwestern einst beigebracht hatten, um sich auf die Gabe in seinem Innern zu konzentrieren. Es hatte nichts genützt.
Bald würde es dunkel werden, und sie mußten für die Nacht haltmachen. Da das Gelände sich inzwischen verändert hatte, ging es nicht mehr einfach nur darum, zu prüfen, ob ihre unmittelbare Umgebung sicher war, denn mittlerweile befanden sie sich in einer Gegend, wo hinter jeder Ecke eine ganze Armee auf der Lauer liegen konnte. Solange die Riesenkrähen sie beschatteten, war unmöglich zu sagen, wer alles Kenntnis von ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort hatte. Er hatte nicht einfach nur eine Atempause gebraucht, um in Ruhe über das Gelesene nachzudenken und das Problem der Kopfschmerzen vielleicht aus sich selbst heraus zu lösen, er hatte auch eigenhändig das Gelände erkunden wollen.
Richard hielt einen Moment inne, um eine Wachtelfamilie mit ausgewachsenen Jungtieren beim Überqueren einer freien Stelle im Gelände zu beobachten. Gemächlich trotteten sie hintereinander über ein freiliegendes Kiesbett, während das Vatertier hoch oben auf einem Fels Wache hielt. Kaum hatten sie das Gestrüpp erreicht, waren sie auch schon nicht mehr zu sehen.
Da und dort war die weiträumige Landschaft aus unregelmäßigen Hügeln, Wasserläufen und zutage liegendem Muttergestein mit kleinwüchsigen, knorrigen Föhren bedeckt. Weiter oben, auf den nahen Berghängen, gab es einen üppigeren Baumbestand aus hochgewachsenen Koniferen. In den geschützten Senken wucherte in undurchdringlichen Büscheln dichtes Unterholz, während das offene Gelände teilweise mit zarten Gräsern bewachsen war.
Richard wischte sich den Schweiß aus den Augen und hoffte, die Luft werde nach Sonnenuntergang ein wenig abkühlen. Er arbeitete sich im Schutz des Unterlaufes einer ausgewaschenen Ablaufrinne im Einschnitt zwischen zwei Hügeln voran und wollte gerade nach seinem Wasserschlauch greifen, um seinen Durst zu löschen, als eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Bergflanke ihn innehalten ließ.
Er ging hinter einem länglichen Felsvorsprung in Deckung, um nicht gesehen zu werden, und riskierte einen vorsichtigen Blick. Ein Mann kletterte über das lose Geröll des Hanges nach unten. Das Poltern der Steine, die den Hang hinabrollten, sobald er seinen Fuß aufsetzte, erzeugte ein fernes Echo, das leise durch die Felsschluchten hallte.
Richard hatte damit gerechnet, daß sie nach Verlassen der abweisenden Wüste jederzeit auf Menschen stoßen konnten, deshalb hatte er alle die schwarzen Nomadengewänder der Wüstenbewohner ablegen und wieder ihre unauffälligen Reisekleider überstreifen lassen. Zwar trug er jetzt eine schwarze Hose und ein einfaches Hemd, doch war sein Schwert alles andere als unauffällig. Selbst Kahlan hatte schlichtere Kleidung angezogen, die besser zu der ärmlichen Bevölkerung der Alten Welt paßte, auch wenn sie an Kahlan keinen großen Unterschied bewirkten; ihre Figur, ihr Haar, vor allem aber ihre Erscheinung selbst ließen sich dadurch kaum verhüllen. Sobald sie jemanden aus ihren grünen Augen ansah, überkam den Betreffenden der unwiderstehliche Drang, sich auf die Knie zu werfen und das Haupt vor ihr zu senken – ganz gleich, was sie gerade trug.