»Ja, mag sein. Ich war noch ein Kind, als sie mich in der Funktionsweise der Magie und der Burg der Zauberer unterwiesen und mich über die Menschen und Geschöpfe in den Midlands unterrichteten, die Magie besaßen. Sie waren vielleicht nicht mit der Gabe geboren, hatten aber ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet, Zauberer zu werden. Bis sie es schließlich waren«, beharrte sie trotzig.
Um Richards Mundwinkel spielte ein gewisses Lächeln, ein Lächeln, das ihr verriet, daß sie soeben die Kernpunkte seiner Argumentation umrissen hatte. »Nur waren sie eben mit diesem Aspekt, mit dieser Eigenschaft der Gabe, nicht geboren worden.« Er beugte sich zu ihr. »Demnach muß Zedd, damit sie Zauberer werden konnten, sie nicht nur ausgebildet, sondern ihnen auch mit Mitteln der Magie geholfen haben, richtig?«
Der Gedanke behagte Kahlan überhaupt nicht. »Das weiß ich nicht; sie haben mir nie von ihrer Ausbildung zum Zauberer erzählt. Über diese Dinge zu sprechen hätte einfach nicht unserem Verhältnis entsprochen, noch war es Bestandteil meiner Ausbildung.«
»Aber Zedd verfügt über additive Magie«, hakte Richard nach. »Damit lassen sich Dinge verändern, man kann etwas hinzufügen und sie zu mehr machen, als sie ursprünglich waren.«
»Mag sein«, gab Kahlan ihm zögernd Recht. »Worauf willst du hinaus?«
»Darauf, daß Zedd Menschen, die nicht mit der Gabe zum Zauberer geboren waren, ausgebildet hat und – viel wichtiger – daß er sie dabei mit Hilfe seiner Kraft unterstützt hat. indem er sie zu mehr machte, als sie von Geburt an waren.« Als sein Pferd eine niedrige, knorrige Fichte umging, sah Richard flüchtig in ihre Richtung. »Mit anderen Worten, er hat Menschen mit Hilfe von Magie verändert.«
Kahlan stieß einen tiefen Seufzer aus, löste den Blick von Richard und betrachtete, bemüht, in vollem Umfang zu begreifen, was er da soeben gesagt hatte, die sanft geschwungenen, grasbewachsenen Hügel, die sich vor ihnen zu beiden Seiten erstreckten.
»Ich habe zuvor nie darüber nachgedacht, aber gut, von mir aus«, sagte sie schließlich. »Und was folgt daraus?«
»Wir dachten, nur die Zauberer von damals seien zu so etwas fähig gewesen, aber offenbar handelt es sich weder um eine vergessene Kunst, noch war es vollkommen aus der Luft gegriffen, als ich dachte, daß die Zauberer damals glaubten, sie könnten das, was ist zu dem verändern, was es ihrer Meinung nach sein sollte. Was ich sagen will, ist Folgendes: Wie Zedd, der den Menschen etwas gab, womit sie nicht geboren waren, haben auch die Zauberer damals versucht, den als ›Säulen der Schöpfung‹ geborenen Menschen einen Funken der Gabe zu geben.«
Kahlan überlief es eiskalt, als es ihr dämmerte. Die Folgerungen waren in der Tat schwindelerregend. Nicht nur die Zauberer damals, auch Zedd hatte sich magischer Kräfte bedient, um die Natur von Menschen zu verändern, mithin das, was sie ihrem Wesen nach von Geburt waren.
Vermutlich hatte er, indem er die ihnen bei der Geburt mitgegebenen Talente verstärkte und ihnen damit ermöglichte, ihr Potential voll auszuschöpfen, ihnen nur geholfen, ihren größten Wunsch im Leben – ihre Berufung – zu verwirklichen. Aber das bezog sich auf Menschen, denen dieses Potential bereits angeboren war. Die Zauberer damals dagegen hatten sich vermutlich ähnlicher Mittel bedient, um den Menschen zu helfen, nur offenbar aus weniger menschenfreundlichen Motiven.
»Demnach müssen die Zauberer von damals, die Erfahrung mit dem Verändern menschlicher Talente hatten, im Glauben gewesen sein, die ›Säulen der Schöpfung‹ genannten Menschen könnten geheilt werden.«
»Geheilt von dem Umstand, daß sie nicht mit der Gabe geboren worden waren«, sagte sie im flachen Tonfall völligen Unglaubens.
»Nicht ganz, schließlich haben sie ja nicht versucht, sie zu Zauberern zu machen. Aber sie dachten wohl, man könnte sie wenigstens vom Fehlen jenes winzigen Funkens der Gabe heilen, der sie befähigte, mit Magie eine Wechselbeziehung einzugehen.«
»Und was passierte dann?«
»Dieses Buch ist nach dem Ende des Großen Krieges geschrieben worden – nachdem die Barriere errichtet und die Alte Welt dahinter weggesperrt worden war. Es wurde in einer Zeit geschrieben, als in der Neuen Welt Frieden herrschte, oder die Barriere die Alte Welt doch zumindest unter Verschluß hielt.
Erinnerst du dich, was wir vor einiger Zeit herausgefunden haben? daß Zauberer Ricker und seine Leute unserer Meinung nach irgend etwas unternommen hatten, um die Fähigkeit subtraktiver Magie zu beschneiden, über die Nachkommen eines Zauberers weitervererbt zu werden? Nun, nach dem Krieg wurden die mit der Gabe Geborenen allmählich immer seltener, und wer noch mit der Gabe geboren wurde, der wurde ohne deren subtraktive Seite geboren.«
»Mit anderen Worten, schon nach kürzester Zeit gab es nahezu niemanden mehr, der sowohl mit der additiven als auch der subtraktiven Seite der Gabe auf die Welt kam. Aber das wußten wir doch längst.«
»Richtig.« Richard beugte sich zu ihr und deutete auf das Buch. »Es wurden immer weniger Zauberer geboren, gleichzeitig stellten diese Zauberer plötzlich fest, daß sie alle völlig ohne Gabe Geborenen – ausnahmslos zerbrochene Glieder in der Vererbungskette – auf dem Hals hatten. Plötzlich hatten sie es nicht nur mit dem Problem der sinkenden Geburtsrate unter den mit der Gabe zum Zauberer Geborenen zu tun, sondern sie sahen sich auch noch dem von ihnen sogenannten Problem der ›Säulen der Schöpfung‹ konfrontiert.«
Kahlan schwankte leicht im Sattel, als sie darüber nachdachte und sich die Situation damals in der Burg der Zauberer vorzustellen versuchte. »Mir leuchtet ein, daß sie überaus besorgt gewesen sein mußten.« Sie senkte viel sagend die Stimme. »Wenn nicht verzweifelt.«
Abrupt verhielt Kahlan ihr Pferd und schob sich hinter Richard, der sein Tier soeben um einen alten, umgestürzten Baum herumlenkte.
Anschließend ließ sie ihr Pferd wieder zu Richard aufschließen und lenkte es neben ihn. »Vermutlich gingen die Zauberer damals dazu über, dasselbe zu tun wie Zedd. Sie begannen, die Berufenen, die Zauberer werden wollten, aber nicht mit der Gabe gesegnet waren, auszubilden.«
»Richtig. Nur zielte ihre Ausbildung darauf ab, die mit additiver Magie ausgestatteten Kandidaten zu befähigen, auch die subtraktive Seite zu gebrauchen – so wie die vollwertigen Zauberer der damaligen Zeit. Mit der Zeit aber verloren sie auch diese Fähigkeit, so daß sie letztendlich nur noch das tun konnten, was auch Zedd getan hat – nämlich Männer zu Zauberern auszubilden, die ausschließlich additive Magie ausüben konnten.
Aber das ist eigentlich gar nicht das zentrale Thema des Buches«, fuhr Richard mit einer wegwerfenden Handbewegung fort. »Sondern nur ein Nebenaspekt, um zu verdeutlichen, was damals alles versucht wurde. Anfangs war man noch voller Zuversicht; man glaubte, diese Säulen der Schöpfung könnten auf die gleiche Weise vom völligen Fehlen der Gabe geheilt werden, wie man den nur zu additiver Magie fähigen Zauberern die Benutzung beider Seiten der Magie beibringen und die ohne Begabung zum Zauberer Geborenen zu Zauberern ausbilden konnte, indem man sie zumindest in der Benutzung additiver Magie unterwies.«
Die Handbewegungen, mit denen er seine Ausführungen unterstrich, erinnerten sie auffällig an Zedds aufgeregtes Gefuchtel, sobald er über irgend etwas in Erregung geriet. »Mit anderen Worten, man versuchte, das Wesen dieser Menschen zu verändern. Es war der verzweifelte Versuch, den ohne einen Funken der Gabe Geborenen die Möglichkeit zu geben, eine Wechselbeziehung mit Magie einzugehen. Man fügte also weder etwas hinzu noch verstärkte man bereits Vorhandenes, sondern versuchte, etwas aus dem Nichts zu erschaffen.«
Die Vorstellung behagte Kahlan ganz und gar nicht. Sie wußten beide, daß die Zauberer der damaligen Zeit ungeheure Macht besessen und daß sie mit der Gabe Geborene verändert hatten – indem sie deren Gabe mit einem bestimmten Ziel manipulierten.