»Wie konnten die Verantwortlichen damals sicher sein, sämtliche Säulen der Schöpfung verbannt zu haben? Wenn auch nur einige wenige der Verbannung entgingen, hätte diese doch ihren Zweck verfehlt?«
»Die mit der Gabe Geborenen – Zauberer und Hexenmeisterinnen – können die von der Gabe völlig Unbeleckten irgendwie als das erkennen, was sie sind: als Lücken in der Welt, wie Jennsen sie nennt. Die mit der Gabe Geborenen können sie zwar sehen, nicht aber mit ihrer Gabe spüren. Offenbar war es nicht schwer festzustellen, wer zu den Säulen der Schöpfung gehörte.«
»Kannst du sie voneinander unterscheiden?«, fragte Kahlan. »Spürst du, daß Jennsen anders, daß sie eine Lücke in der Welt ist?«
»Nein, allerdings wurde ich auch nicht im Gebrauch meiner Talente unterwiesen. Und du?«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Hexenmeisterin, folglich besitze ich wohl auch nicht die Fähigkeit, Menschen wie sie zu erkennen.« Sie verlagerte das Gewicht im Sattel. »Und was wurde damals nun aus diesen Menschen?«
»Die Bewohner der Neuen Welt trieben sämtliche nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des Hauses Rahl sowie deren Nachkommen zusammen und schickten sie geschlossen durch die Große Barriere in die Alte Welt, deren Bewohner erklärt hatten, sie wollten eine Menschheit frei von jeglicher Magie.«
Die Ironie der Geschichte ließ Richard trotz aller Schrecklichkeit schmunzeln. »Im Wesentlichen gaben sie ihren Feinden damit, was sie angeblich wollten und wofür sie gekämpft hatten: eine Menschheit bar jeder Magie.«
Sein Lächeln erlosch. »Kannst du dir vorstellen, wir müßten über Jennsens Verbannung in eine furchterregende, unbekannte Welt entscheiden, nur weil sie unfähig ist, Magie wahrzunehmen?«
Kahlan versuchte, sich in die Situation zu versetzen, und schüttelte den Kopf. »Welch grauenhafte Vorstellung, entwurzelt und einfach fortgejagt zu werden, obendrein noch zu den Feinden des eigenen Volkes.«
Richard ritt eine Zeit lang schweigend weiter, ehe er schließlich mit der Geschichte fortfuhr. »Für die Verbannten bedeutete dies ein grauenhaftes Erlebnis, aber auch für die Zurückgebliebenen war es eine fast unerträglich traumatische Erfahrung. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das gewesen sein muß: all die Freunde und Verwandten, die plötzlich aus deinem Leben, aus deiner Familie gerissen wurden, der Abbruch von Handelsbeziehungen, die Einbrüche im Auskommen?« Richards Worte waren erfüllt von bitterer Endgültigkeit. »Und das alles nur, weil man einen bestimmten Wesenszug für wichtiger hielt als das menschliche Leben.«
Allein schon das Zuhören hatte für Kahlan etwas unendlich Quälendes. Sie betrachtete Richard, der neben ihr ritt, den Blick gedankenverloren starr nach vorn gerichtet.
»Und was geschah dann?«, fragte sie schließlich. »Hat man je wieder von den Verbannten gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Geringste. Sie lebten fortan jenseits der großen Barriere und existierten somit praktisch nicht mehr.«
Kahlan strich über den Hals ihres Pferdes, nur um das tröstliche Gefühl eines lebenden Wesens zu spüren. »Und was geschah mit all denen, die danach geboren wurden?«
Sein Blick war noch immer starr nach vorn gerichtet. »Sie wurden getötet.«
Kahlan schluckte angewidert. »Mir ist unbegreiflich, wie sie zu so etwas fähig sein konnten.«
»Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes ließ sich feststellen, ob es mit der Gabe gesegnet war oder nicht. Angeblich war es einfacher, solange die Kinder noch keinen Namen hatten.«
Für einen Moment verschlug es Kahlan die Sprache, ehe sie mit matter Stimme wiederholte: »Es ist mir völlig unbegreiflich.«
»Nichts anderes haben Konfessorinnen nach der Geburt eines männlichen Konfessors getan.«
Seine Bemerkung traf sie ins Mark. Sie erinnerte sich nur äußerst ungern an diese Zeiten, an die Male, da eine Konfessorin ein männliches Kind zur Welt gebracht hatte, das schließlich auf Geheiß der Mutter getötet worden war.
Angeblich hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, denn den männlichen Konfessoren der damaligen Zeit war es unmöglich, ihre Kraft zu beherrschen. Sie verwandelten sich in menschliche Ungeheuer, die Kriege vom Zaun brachen und unvorstellbares Leid über die Menschen brachten.
Angeblich hatte es auch in diesen Fällen keine andere Wahl gegeben, als die männlichen Nachkommen einer Konfessorin zu töten, ehe man ihnen einen Namen gab.
Kahlan brachte es nicht über sich, Richard in die Augen zu sehen. Die Hexe Shota hatte ihnen einst geweissagt, sie würden ein männliches Kind bekommen; doch weder Kahlan noch Richard kämen auch nur einen Moment auf den Gedanken, einem Kind etwas anzutun, das aus ihrer Liebe füreinander und für das Leben hervorgegangen war.
»Irgendwann, nachdem dieses Buch geschrieben worden war, änderte sich dann die Situation. Als dieses Buch verfaßt wurde, war der Lord Rahl von D’Hara gewöhnlich verheiratet, und im Allgemeinen erfuhr man, wenn er einen Nachkommen zeugte. War das Kind von der Gabe völlig unbeleckt, wurde seinem Leben so schonend wie möglich ein Ende bereitet.
Irgendwann wurden die herrschenden Zauberer des Hauses Rahl schließlich so wie Darken Rahl – sie nahmen sich jede Frau, die sie begehrten, wann immer ihnen danach zumute war – völlig ungeachtet der möglichen Folgen. Ob ein nicht mit der Gabe geborenes Kind aus einer solchen Verbindung tatsächlich eine Säule der Schöpfung war, verlor für sie jede Bedeutung. Sie töteten einfach sämtliche Nachkommen bis auf ihren mit der Gabe gesegneten Erben.«
»Aber wenn sie doch Zauberer waren, hätten sie doch ohne weiteres feststellen können, wer eine Säule der Schöpfung war, und wenigstens die Übrigen verschonen können.«
»Vermutlich, vorausgesetzt, sie hätten es wirklich gewollt. Aber wie im Falle Darken Rahls galt ihr ausschließliches Interesse ihrem einen mit der Gabe gesegneten Nachkommen. Alle übrigen wurden einfach umgebracht.«
»Weshalb sie sich aus Angst um ihr Leben versteckten und es nur einer von ihnen gelang, sich Darken Rahls Zugriff zu entziehen – bis du ihn schließlich getötet hast. Und deswegen hast du jetzt eine Schwester – Jennsen.«
Richards Lächeln kehrte zurück. »Genau so ist es.«
Kahlan folgte seinem Blick mit den Augen und sah einige ferne, dunkle Punkte – schwarz gezeichnete Riesenkrähen –, die, getragen von den Aufwinden vor den steilen Felswanden der Berge im Osten, in großer Höhe dahinglitten und sie beobachteten.
Sie sog die heiße, feuchte Luft in ihre Lungen und atmete einmal tief durch. »Was glaubst du, Richard, könnten diese von der Gabe völlig unbeleckten Nachkommen, die man in die Alte Welt verbannt hatte, möglicherweise überlebt haben?«
»Wenn sie nicht von den Zauberern aus der Alten Welt umgebracht worden sind.«
»Aber die Menschen hier in der Alten Welt unterscheiden sich doch überhaupt nicht von denen in der Neuen Welt. Ich habe an der Seite von Zedd und den Schwestern des Lichts gegen die hiesigen Soldaten gekämpft; wir haben alle nur erdenklichen Arten der Magie ausprobiert, um den Vormarsch der Imperialen Ordnung aufzuhalten. Ich kann dir aus eigener Anschauung bestätigen, daß alle Soldaten aus der Alten Welt sich mit Magie beeinflussen lassen, was wiederum bedeutet, daß sie alle mit besagtem winzigen Funken der Gabe geboren worden sind. In der Alten Welt gibt es keine zerbrochenen Glieder in der Vererbungskette der Magie.«
»Nach allem, was ich hier unten gesehen habe, kann ich dir da nur zustimmen.«
Kahlan wischte sich den Schweiß von der Stirn, der ihr bereits in die Augen zu rinnen drohte. »Was mag also aus diesen Verbannten geworden sein?«
Richard sah hinüber zu den fernen Bergen, über denen die Riesenkrähen kreisten. »Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung. Auf jeden Fall muß es ein grauenhaftes Erlebnis für sie gewesen sein.«
»Dann denkst du also, daß sie es möglicherweise nicht überlebt haben? Daß sie ausgestorben sind oder umgebracht wurden?«