Richard betrachtete sie mit einem versteckten Seitenblick. »Ich weiß es nicht. Aber was ich wirklich gerne wissen würde, ist, warum der Ort dort hinten im Buch den gleichen Namen trägt wie sie: die Säulen der Schöpfung.« Seine Augen bekamen einen gefährlichen Glanz. »Und was mir noch viel schlimmer erscheint: Warum zählt eine Abschrift dieses Buches, wie Jennsen uns erzählte, zu Jagangs kostbarsten Besitztümern?«
Dieser beunruhigende Gedanke ging auch Kahlan schon eine Weile durch den Kopf. Sie sah unter ihrer gerunzelten Stirn zu ihm hoch. »Du hättest vielleicht doch nicht mehrere Kapitel des Buches überspringen sollen, Lord Rahl.«
Sie hatte sich ein wenig mehr erhofft als nur ein flüchtiges Lächeln. »Mir würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn das mein gravierendster Fehler in letzter Zeit gewesen wäre.«
»Was willst du damit sagen?«
Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Spürst du irgendeine Veränderung in deiner Konfessorinnenkraft?«
»Eine Veränderung?« Seine Frage ließ sie beinahe unweigerlich zurückschrecken; sie konzentrierte sich auf ihr Innerstes und unterzog die Kraft, die sie dort stets spürte, einer eingehenden Prüfung. »Nein, sie fühlt sich an wie immer.«
Die im Kern ihres Wesens schlummernde Kraft mußte, wenn sie gebraucht wurde, nicht erst abgerufen werden; sie war wie immer stets bereit. Um sie freizusetzen, brauchte sie nichts weiter zu tun, als ihre Fesseln zu lösen.
»Ich habe den Eindruck, mit dem Schwert stimmt etwas nicht«, sagte er völlig unvermittelt. »Mit seiner Kraft.«
Kahlan wußte beim besten Willen nicht, was sie von dieser Äußerung halten sollte. »Woher willst du das wissen? Was stimmt damit nicht?«
Richard strich gedankenverloren über die um seine Finger gewickelten Zügel. »Es ist schwer zu sagen, was genau nicht stimmt – normalerweise bin ich es gewöhnt, daß sie mir sofort auf Abruf zur Verfügung steht. Wenn ich sie brauche, reagiert sie zwar aus einem unerklärlichen Grund aber erst mit einer gewissen Verzögerung.«
Kahlan spürte, daß sie, mehr als je zuvor, sofort nach Aydindril zurück und Zedd aufsuchen mußten. Zedd hatte das Schwert in seiner Obhut gehabt. Auch wenn sie es nicht durch die Sliph mitnehmen konnten, so vermochte Zedd sie über jeden noch so unscheinbaren Aspekt seiner Kraft aufzuklären. Er würde wissen, was zu tun war – und vermutlich konnte er Richard auch bei seinen Kopfschmerzen helfen.
Denn mittlerweile war Kahlan überzeugt, daß Richard dringend Hilfe brauchte; er war unübersehbar nicht mehr er selbst. Seine grauen Augen waren glasig vor Schmerzen, aber auch noch etwas anderes hatte bei ihm Spuren hinterlassen: in seinem Gesicht, in seiner Art, sich zu bewegen, überhaupt in seiner ganze Körperhaltung.
Seine Ausführungen über das Buch und was er darin entdeckt hatte, schienen sehr an seinen Kräften gezehrt zu haben.
Immer mehr beschlich sie der Gedanke, daß gar nicht sie es war, der die Zeit davonlief, sondern Richard. Bei dem Gedanken überlief sie trotz der warmen Nachmittagssonne ein eisiger Schauer des Entsetzens.
Richard sah über die Schulter nach den anderen. »Laß uns zum Wagen zurückreiten. Ich muß dringend etwas Wärmeres anziehen. Irgendwie ist es kalt heute.«
12
Zedd spähte die menschenleeren Straßen entlang; er hatte schwören können, jemanden gesehen zu haben. Mit Hilfe seiner Gabe suchte er sie nach einem Anzeichen von Leben ab und kam zu dem Ergebnis, daß niemand in der Nähe war. Dennoch rührte er sich nicht von der Stelle und behielt die Straße weiter im Blick.
Der warme Wind drückte sein schlichtes Gewand gegen den hageren Körper und zauste sacht sein wirres, unordentliches Haar. Ein abgerissenes, verblichenes blaues Kleid, das jemand zum Trocknen an ein Balkongeländer geklammert hatte, flatterte im Wind wie eine Fahne. Das Kleid war, wie diese Stadt mit allem persönlichen Hab und Gut darin, vor langer Zeit einfach zurückgelassen worden.
Die Häuser mit ihren in den verschiedensten Farben von Rostrot bis Gelb gestrichenen Mauern, mit ihren Fensterläden in freundlichen, kontrastieren Tönen, ragten in leicht unterschiedlichem Maß in die enge, gepflasterte Straße hinein, wodurch eine Schlucht aus bunten, unregelmäßigen Steinmauern entstand. Die meisten oberen Stockwerke überragten das Untergeschoß um mehrere Fuß, und da die Traufen noch ein wenig weiter vorstanden, verdeckten die Häuser – bis auf einen unregelmäßig gezackten Streifen Nachmittagssonne, der dem leicht gewundenen Lauf der Straße einen sanft ansteigenden Hügel hinauf und darüber hinweg folgte – den größten Teil des Himmels. Die Eingangstüren waren ausnahmslos fest verriegelt, die meisten Fensterläden geschlossen.
Zedd entschied, einer durch Licht hervorgerufenen Sinnestäuschung erlegen zu sein – einem verirrten Lichtstrahl vielleicht, den eine vom Wind bewegte Fensterscheibe über eine Mauer hatte wandern lassen.
Langsam machte er sich auf den Rückweg durch die Straße, wobei er sich aber dicht an eine Straßenseite hielt und so wenig Geräusche wie möglich machte. Seit der Entfesselung des Lichtnetzes, dem eine ungeheure Zahl ihrer Soldaten zum Opfer gefallen war, war die Armee der Imperialen Ordnung nicht mehr in die Stadt zurückgekehrt, was aber nicht bedeutete, daß nicht überall Gefahren lauern konnten.
Zweifellos hatte es Kaiser Jagang nach wie vor auf die Stadt und vor allem auf die Burg der Zauberer abgesehen, aber er war kein Dummkopf; er wußte, einige wenige Lichtnetze, gezündet inmitten seiner Armee, konnten seine Streitmacht trotz ihrer gewaltigen Größe in Sekundenbruchteilen in einem derart niederschmetternden Ausmaß dezimieren, daß der Krieg einen völlig anderen Verlauf nehmen mochte. Ein Jahr lang führte er nun schon gegen die Armeen der Midlands und D’Haras Krieg, und in all diesen Schlachten hatte er nicht annähernd so viele Soldaten verloren wie in diesem einen, von gleißend hellem Licht erfüllten Augenblick. Leichtfertig würde er einen solchen Vorfall gewiß nicht provozieren.
Andererseits dürfte der Schlag sein Verlangen nach einer Einnahme der Burg gewaltig gesteigert haben – ebenso wie sein Bedürfnis, Zedd in die Finger zu bekommen.
Zedd seufzte. Besäße er mehr Lichtnetze als nur dieses eine, das er nach einer hektischen Suche quer durch die ganze Burg aufgetrieben hatte, er hatte sie längst allesamt gegen die Imperiale Ordnung entfesselt.
Immerhin, der Traumwandler wußte nicht, daß er keine weiteren dieser konstruierten Banne mehr besaß, deshalb konnte Zedd Jagangs Angst nutzen und die Imperiale Ordnung von Aydindril und der Burg der Zauberer fernhalten.
Am Palast der Konfessoren war durch den Angriff, zu dem Jagang sich hatte verleiten lassen, einiger Schaden entstanden, nach Zedds Einschätzung jedoch hatte das Täuschungsmanöver die bedauerlichen Schäden allemal gelohnt; zumal ihm und Adie der Kaiser dadurch um ein Haar in die Hände gefallen wäre. Materielle Schäden ließen sich jederzeit reparieren. Er gelobte, dafür zu sorgen, daß dies auch tatsächlich geschah.
Zedd ballte verärgert eine Faust; an jenem Tag war er dicht davor gewesen, Jagang zu vernichten. Nun, zumindest hatte er seiner Armee einen herben Schlag versetzt.
Wer weiß, vielleicht hätte er ihn sogar erwischt, wenn da nicht diese seltsame junge Frau gewesen wäre. Die Erinnerung an die leibhaftige Begegnung mit einem Menschen, der immun gegen Magie war, versetzte ihn noch immer in Verwunderung. Natürlich hatte er von ihrer Existenz gewußt, bis zu jenem Augenblick jedoch war er nicht wirklich sicher gewesen. Die vagen Anspielungen in den alten Büchern gaben Anlaß zu interessanten, wenngleich abstrakten Spekulationen, aber etwas Derartiges aus eigener Anschauung zu erleben war doch etwas völlig anderes.
Ihr Anblick hatte ihn zutiefst beunruhigt; Adie hatte die Begegnung sogar noch mehr erschüttert als ihn. Trotz ihrer Blindheit konnte sie kraft ihrer Gabe besser sehen als er, die junge Frau indes, gleichzeitig existent und in gewisser Hinsicht wieder nicht, hatte sie an jenem Tag nicht wahrnehmen können. Für seine Augen, wenn schon nicht für seine Gabe, hatte sie einen bezaubernden Anblick geboten, denn trotz einer gewissen, oberflächlichen Ähnlichkeit mit Darken Rahl sah sie letztlich doch ganz anders aus – schlichtweg hinreißend. Sie war unübersehbar eine Halbschwester Richards, vor allen um die Augen war sie ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Hätte Zedd sie nur zurückhalten und verhindern können, daß sie zwischen die Fronten geriet, oder sie überzeugen können, daß sie mit ihrem Aufenthalt bei der Imperialen Ordnung einen fürchterlichen Fehler machte, wäre Jagang seiner gerechten Strafe nicht entgangen.