»Ich habe sie gebeten, es dir nicht zu sagen«, erwiderte Richard.
»Aber warum? Wenn wir es ohnehin sehen werden, warum willst du mir dann nicht sagen, was es ist?«
»Weil du nicht die Gabe besitzt«, erklärte Richard. »Ich möchte, daß du es dir völlig unvoreingenommen ansiehst.«
Jennsen blinzelte verständnislos. »Was könnte das für einen Unterschied ausmachen?«
»Ich bin mit meiner Übersetzung noch nicht sehr weit gekommen, aber soweit ich dem Buch, das Friedrich mitgebracht hat, entnehmen kann, besitzen selbst jene, die nicht im üblichen Sinn mit der Gabe gesegnet sind, zumindest einen winzigen Funken von ihr – was sie in die Lage versetzt, mit der in der Welt existierenden Magie Verbindung aufzunehmen: etwa so, wie man mit Augen geboren sein muß, um Farben wahrnehmen zu können. Wenn man mit Augen geboren ist, ist man in der Lage, ein beeindruckendes Gemälde zu sehen und zu verstehen, selbst wenn man vielleicht nicht fähig ist, ein solches Bild eigenhändig zu erschaffen.
Jeder mit der Gabe gesegnete Lord Rahl zeugt nur einen einzigen mit der Gabe gesegneten Nachkommen. Selbst wenn er noch andere Kinder haben sollte, ist nur selten eines davon ebenfalls mit der Gabe gesegnet. Dennoch verfügen sie über besagten winzigen Funken, wie übrigens auch jeder andere Mensch – selbst sie können sozusagen Farben wahrnehmen.
Nun heißt es aber in dem Buch, daß es äußerst seltene Nachkommen eines mit der Gabe gesegneten Lord Rahl gibt, so wie dich, die gänzlich ohne einen Hauch der Gabe geboren wurden. Im Buch werden sie ›Säulen der Schöpfung‹ genannt. Ganz so wie ein ohne Augen geborener Mensch keine Farben wahrnehmen kann, können diese Menschen keine Magie wahrnehmen.
Doch selbst das trifft die Sache nicht ganz, denn in deinem Fall geht es um mehr als das völlig Unvermögen, Magie wahrzunehmen. Denn für jemanden, der blind geboren wurde, existieren Farben durchaus, nur kann er sie nicht sehen. Du aber kannst Magie nicht nur nicht wahrnehmen, für dich existiert Magie nicht – sie ist nicht Bestandteil deiner Wirklichkeit.«
»Wie ist so etwas möglich?«, fragte Jennsen.
»Das weiß ich nicht«, sagte Richard. »Als unsere Vorfahren die Bande zwischen dem Lord Rahl und dem Volk D’Haras schufen, war damit die einzigartige Fähigkeit verbunden, durchweg einen mit der Gabe gesegneten Nachkommen zu gebären. Magie verlangt nach Ausgewogenheit. Vielleicht hatten sie keine andere Wahl, als es so einzurichten, daß für jeden Menschen wie dich jeweils ein Gegenstück geboren werden mußte, damit die von ihnen erschaffene Magie funktionierte. Vielleicht war ihnen aber auch gar nicht klar, was geschehen würde, und sie schufen die Ausgewogenheit gewissermaßen aus Versehen.«
Jennsen räusperte sich. »Was würde passieren, wenn ... nun, du weißt schon, wenn ich ein Kind bekäme?«
Richard blickte Jennsen lange und tief in die Augen. »Du würdest Nachkommen zur Welt bringen, die wie du sind.«
Jennsen beugte sich vor; ihre Hände verrieten ihre innere Aufgewühltheit. »Selbst wenn ich jemanden heirate, der einen Funken der Gabe besitzt? Jemand, der wie du es genannt hast, Farben wahrnehmen kann? Selbst dann wäre mein Kind wie ich?«
»Selbst dann, und zwar ohne jede Ausnahme«, erwiderte Richard mit ruhiger Gewissheit. »Du bist ein zerbrochenes Glied in der Vererbungskette der Gabe. Laut Buch verhält es sich so: Wird die Reihe all derer, die mit einem Funken der Gabe geboren wurden, diejenigen eingeschlossen, die wie ich tatsächlich mit der Gabe geboren wurden – eine Reihe, die Tausende von Jahren, ja bis in die Ewigkeit zurückreicht –, nur ein einziges Mal unterbrochen, so ist sie für immer unterbrochen und kann nicht wiederhergestellt werden.«
»Aus diesem Grund machte der jeweilige Lord Rahl Jagd auf seine nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen und vernichtete sie, denn diese Menschen würden zum Ursprung von etwas, das man bis dahin in der Welt nicht kannte: den von der Gabe Unberührten. Jeder Abkömmling eines jeden Nachkommen würde die Vererbungskette des Funkens der Gabe bei jedem unterbrechen, den sie zum Ehegatten nähmen, und damit die Welt unwiederbringlich verändern.
Aus diesem Grund werdet ihr wie schon gesagt, in dem Buch als ›Säulen der Schöpfung‹ bezeichnet.«
Die Stille war zum Zerreißen gespannt.
»Und genauso wird auch dieser Ort genannt«, sagte Tom und deutete mit dem Daumen über seine Schulter; offenbar verspürte er das Bedürfnis, das Schweigen zu brechen. »›Die Säulen der Schöpfung‹.« Er betrachtete die Gesichter, die sich um das trübe Licht, das die flackernde Laterne spendete, scharten. »Scheint mir eine seltsame Fügung zu sein, daß sowohl die Menschen wie Jennsen als auch dieser Ort denselben Namen tragen.«
Richard starrte leeren Blicks hinüber zu jenem grauenhaften Ort, an dem Kahlan getötet worden wäre, wäre ihm bei der Anwendung der Magie ein Fehler unterlaufen. »Ich bin fest davon überzeugt, daß beides in bestimmter Weise miteinander verbunden ist.«
Das Buch -»Die Säulen der Schöpfung«-, in dem die wie Jennsen geborenen Menschen beschrieben wurden, war in der uralten Sprache Hoch-D’Haran verfaßt, einer Sprache, die kaum ein Lebender noch verstand. Richard hatte sie zu lernen begonnen, um wichtige Informationen aus anderen Büchern aus der Zeit vor dem Großen Krieg, die sie gefunden hatten, entschlüsseln zu können.
Dieser Weltenbrand, erloschen vor dreitausend Jahren, war irgendwie erneut entflammt und hatte sich unkontrolliert über die gesamte Welt ausgebreitet. Kahlan wagte gar nicht daran zu denken, welch maßgebliche – wenn auch unvermeidbare – Rolle sie und Richard dabei gespielt haben mochten.
Jennsen beugte sich vor, so als suchte sie nach einem Hoffnungsschimmer. »Wieso glaubst du, zwischen beiden könnte eine Verbindung bestehen?«
Richard fühlte sich völlig erschöpft und stieß einen Seufzer aus. »Ich weiß es nicht, noch nicht.«
Jennsen rollte einen kleinen Stein im Kreis herum, so daß eine feine Spur im Staub zurückblieb. »All diese Geschichten über mich, daß ich eine Säule der Schöpfung sein und die Vererbungskette der Gabe unterbrochen haben soll, geben mir das Gefühl, ich sei irgendwie ... schmutzig.«
»Schmutzig?« Sie so etwas auch nur aussprechen zu hören schien Tom bereits zu kränken.
Richard stützte seine Ellbogen auf die Knie. »Ich kenne das Gefühl, sich für die Dinge, die einem von Geburt an mitgegeben sind, schuldig zu fühlen – für die Talente, die man besitzt oder nicht. Mir war es stets zuwider, mit der Gabe geboren zu sein, trotzdem habe ich mittlerweile erkannt, wie unsinnig solche Empfindungen sind, und wie widersinnig es ist, sich selbst so zu verdammen.«
»Aber in meinem Fall ist es etwas anderes«, erwiderte sie und löschte die Spur des Steinchens im Sand mit dem Finger wieder aus. »Du bist nicht der Einzige, auch andere Zauberer oder Hexenmeisterinnen besitzen die Gabe. Oder wie du es ausgedrückt hast, alle anderen können die Farben zumindest sehen. Ich dagegen bin die Einzige meiner Art.«
Richard betrachtete seine Halbschwester, seine wunderschöne, kluge, nicht mit der Gabe gesegnete Halbschwester, die jeder frühere Lord Rahl auf der Stelle umgebracht hätte, und konnte sich eines strahlenden Lächelns nicht erwehren. »In meinen Augen, Jennsen, bist du rein wie eine Flocke jungfräulichen Schnees – einzigartig und von bemerkenswerter Schönheit. Weißt du, Magie existiert einfach, es geht nicht darum, ob sie ein Recht darauf hat. Das zu glauben hieße das wahre Wesen, die Realität, der Dinge ignorieren. Jeder Mensch hat, solange er anderen nicht das Leben nimmt, ein Recht auf Leben. Es wäre unsinnig, zu behaupten, die Tatsache, daß jemand mit rotem Haar geboren wurde, nähme braunem Haar das Recht, auf seinem Kopf zu wachsen.«
Die Vorstellung schien Jennsen zu amüsieren. Es tat gut zu sehen, daß ihr Lächeln wieder die Oberhand gewann. Tom schien, nach dem Ausdruck auf seinem Gesicht, derselben Meinung zu sein.
Schließlich fragte Jennsen: »Was ist nun mit diesem Ding, das wir in Kürze zu Gesicht bekommen werden?«