Die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.
Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte Richard in den Wind und versuchte, trotz des heulenden Sandsturms etwas zu erkennen, bis eine kräftige Bö plötzlich noch mehr Sand und Staub aufwirbelte. Es war, als mieden die feinen, über den ebenen Wüstenboden dahinjagenden Sandwirbel eine Stelle genau unterhalb der Riesenkrähen – bis sich immer deutlicher eine Gestalt abzuzeichnen begann.
Sie schien die Umrisse eines Menschen zu haben.
Der Staub umwirbelte ein leeres Nichts, verlieh ihm dadurch Form und Gestalt, so als wollte er zeigen, was sich dort befand, ohne es tatsächlich preiszugeben. Wann immer der Wind auffrischte und eine dichte Staubwolke herantrug, glich die vom verwehten Sand umwirbelte Silhouette den Umrissen eines Mannes mit langem Gewand und Kapuze.
Richards Hand tastete nach dem Heft seines Schwertes.
Die Gestalt bestand ausschließlich aus dem Sand, der ihre äußere Kontur umwehte – ganz ähnlich trübem Wasser, das eine Flasche aus durchsichtigem Glas umspült und dadurch ihre verborgene Form offenbart. Die Gestalt schien völlig regungslos dazustehen und ihn zu beobachten.
Obgleich dieses leere, sandumwirbelte Nichts keine Augen hatte, meinte Richard deutlich Blicke auf seinem Körper zu spüren.
»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich Jennsen, die plötzlich neben ihm stand, in besorgtem Flüsterton.
Richard schob sie mit seiner linken Hand zurück. Das heftige Bedürfnis, das ihn gerade überkam, war so übermächtig, daß er seine ganze Konzentration aufbieten mußte, um dabei nicht allzu grob zu sein. Er hielt das Heft seines Schwertes so fest gepackt, daß sich die erhabenen, mit Golddraht in das Silber eingearbeiteten Buchstaben des Wortes WAHRHEIT spürbar in seine Hand eingruben.
Richard beschwor den Daseinszweck des Schwertes, den eigentlichen Grund seiner Existenz. Als Antwort zündete die Urgewalt der Kraft des Schwertes.
Noch während ihn der Zorn des Schwertes durchströmte, spürte Richard jenseits seines Zorns, in einem verborgenen Winkel seines Verstandes, unerwartet eine vage Abneigung des Magiestromes, seiner Aufforderung nachzukommen.
Es war als stürzte man durch eine Tür, in der Erwartung, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Urgewalt eines tosenden Sturms stemmen zu müssen, nur um gleich darauf ins Leere zu stolpern, weil der Widerstand geringer war als erwartet.
Bevor Richard sein Gefühl in Zweifel ziehen konnte, durchflutete ihn eine Woge von Zorn und erfüllte ihn mit der ungestümen, kalten Wut, durch die sich die Kraft des Schwertes offenbarte.
Der Wirbel aus kreisenden Riesenkrähen kam näher. Auch dieses Verhalten war nicht ungewöhnlich, diesmal jedoch wurden sie begleitet von der leeren, nur durch den umherwirbelnden Sand und Staub gezeichneten Gestalt. Es schien, als würde der körperlose Kapuzenmann von den Vögeln mitgeschleppt.
Das charakteristische Klirren von Stahl in der heißen, frühmorgendlichen Luft verkündete die Ankunft des Schwertes der Wahrheit.
Die Bewegung kam so unvermittelt, daß Jennsen ein erschrockener Schrei entfuhr und sie mit einem Satz zurücksprang.
Die Riesenkrähen antworteten mit durchdringendem, spöttischem Krächzen, das vom heulenden Wind herangetragen wurde.
Das unverwechselbare Geräusch, das Richards Schwert beim Ziehen erzeugte, rief Kahlan und Cara in vollem Lauf herbei. Cara hätte sich am liebsten schützend vor ihn geworfen, war aber klug genug, sich ihm, wenn er das Schwert gezogen hatte, nicht in den Weg zu stellen. Den Strafer in der Faust, den Oberkörper leicht vorgebeugt, blieb sie, nicht unähnlich einer Raubkatze kurz vor dem Sprung, jählings etwas seitlich von ihm stehen.
»Was gibt es denn?«, fragte Kahlan, die hinter ihm angelaufen kam und zu der von Wind und Staub umwirbelten Gestalt hinüberstarrte.
»Die Riesenkrähen«, war Jennsens sorgenvolle Stimme zu hören. »Sie sind wieder da.«
Kahlan starrte sie ungläubig an. »Die Riesenkrähen scheinen mir nicht mal das Schlimmste zu sein.«
Richard beobachtete die seltsame Erscheinung, die sich genau unterhalb der kreisenden Vögel abzeichnete. Er spürte das Schwert in seinem Griff, dessen Kraft das Mark seiner Knochen mit einem sachten Kribbeln durchzog, und nahm zum ersten Mal ein kurzes Zögern, einen leisen Anflug von Zweifel wahr. Aber er durfte keine Zeit verlieren. Er wandte sich herum zu Tom, der soeben mit dem Befestigen der Führungsleinen seiner stämmigen Zugpferde fertig war, und machte die Geste des Bogenschießens. Tom machte augenblicklich kehrt und lief zum Wagen zurück, während Friedrich hastig nach den Haltestricken der übrigen Pferde griff und einige Mühe hatte, sie zu beruhigen und zu verhindern, daß sie scheuten. Tom, ins Wageninnere gebeugt, warf auf der Suche nach Richards Bogen und Köcher alle möglichen Ausrüstungsgegenstände zur Seite.
Jennsens Blick wanderte von einer düsteren Miene zur nächsten. »Was soll das heißen, die Riesenkrähen sind noch nicht einmal das Schlimmste?«
Cara deutete mit ihrem Strafer nach vorn. »Da ... diese Gestalt. Der Mann dort.«
Jennsen runzelte verwirrt die Stirn, während ihr Blick zwischen Cara und dem aufgewirbelten Sand hin- und herwanderte.
»Was siehst du?«, fragte Richard.
In einer verzweifelten Geste warf sie die Hände in die Luft. »Schwarz gezeichnete Riesenkrähen, fünf an der Zahl. Außerdem Sand, der einem jede Sicht nimmt, sonst nichts. Ist da draußen etwa jemand? Habt ihr jemanden kommen sehen?«
Sie konnte es tatsächlich nicht sehen.
Tom zog endlich Bogen und Köcher von der Ladefläche und lief zu den anderen hinüber, als zwei der Raubvögel, so als hätten sie Tom mit dem Bogen herbeieilen sehen, eine ihrer Schwingen anhoben und einen weiten Bogen beschrieben. Sie umkreisten ihn einmal, ehe sie in der Dunkelheit verschwanden. Die anderen drei dagegen zogen weiter ihre Kreise, so als müßten sie die schwebende Gestalt im wirbelnden Sand aufrecht halten.
Immer näher kamen sie, und mit ihnen die schemenhafte Gestalt. Richard hatte nicht die leiseste Ahnung, um was es sich handeln mochte, doch das bedrohliche Gefühl, das sie hervorriefen, stand seinem schlimmsten Alptraum in nichts nach. Der Kraft des Schwertes, die ihn durchlief, waren solche Ängste und Zweifel fremd, aber wieso spürte er sie dann? Ein Sturm der Magie, der alles in den Schatten stellte, was hier draußen in der Wüste toste, stieg in ihm hoch und drängte darauf, entfesselt zu werden. Mit einer ungeheuren Willensanstrengung unterdrückte Richard diesen Drang und unterwarf ihn, für den Fall, daß er ihn entfesseln wollte, seinem Willen. Er war der Meister des Schwertes, und diese Macht durfte er sich unter keinen Umständen aus den Händen reißen lassen. Die Reaktion des Schwertes auf die Erscheinung im Sandwirbel erlaubte keinen Zweifel; er glaubte sicher zu wissen, welcher Art diese Erscheinung im Sand dort vor ihm war. Nur was vermittelte ihm das Schwert?
Hinten beim Wagen wieherte ein Pferd. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte Richard, daß Friedrich noch immer damit kämpfte, die Tiere zu beruhigen. Plötzlich bäumten sich alle Pferde gleichzeitig auf und rissen an dem Strick, den er mit beiden Händen fest umklammert hielt, ehe sie schnaubend und mit den Hufen trampelnd wieder auf dem Boden landeten. Aus dem Augenwinkel sah Richard zwei schwarze Schatten aus der Dunkelheit heranschießen, die kaum den Boden zu berühren schienen. Betty stieß einen entsetzlichen Klagelaut aus.
Schon waren sie, ebenso schnell, wie sie gekommen waren, wieder verschwunden und im undurchdringlichen Dämmerlicht untergetaucht.
Nun stieß Jennsen einen entsetzten Schrei aus und rannte hinüber zu den Tieren.
Der reglose Schatten vor ihnen schien alles genau zu beobachten. Tom versuchte Jennsen im Vorüberlaufen festzuhalten, doch sie wich ihm aus. Einen Moment lang befürchtete Richard, Tom könnte ihr nachsetzen, doch dann hielt er bereits wieder auf ihn zu.
Plötzlich schossen die beiden Riesenkrähen erneut aus dem trüben Dämmer hervor, so nah, daß Richard die Kiele der Flugfedern in ihren weit gespreizten Flügeln sehen konnte. Sie stießen aus dem Sandwirbel herab und zogen gleich darauf wieder ihre Kreise – eine jede von ihnen mit einem kleinen, weißen, schlaffen Etwas in den mächtigen Krallen.