Auch Siegfried stieg in den Sattel. Sie verließen die Schwertburg und galoppierten gen Süden. Zwar lag auch Xanten am Fluß, aber die Reiter nahmen den kürzesten Weg und folgten nicht den zahlreichen Windungen des Stroms.
Unwillkürlich mußte Siegfried wieder an den einäugigen Wolf denken und fragte sich, ob es wirklich nur ein Tier gewesen war. Es gab die alten Geschichten von Ungeheuern, die man Mannwölfe, Nachtwölfe oder Werwölfe hieß. War das Wahrheit oder Aberglaube? Siegfried wußte es nicht, doch das unbestimmte Gefühl blieb, daß ihm eine überirdische Macht entgegengetreten war.
Er dachte an den Falken und fühlte sich in dieser Annahme bestätigt. Stärker noch als der Wolf hatte der große Vogel in ihm die Empfindung hervorgerufen, es mit unheimlichen Kräften zu tun zu haben. Der Falke war sein Retter gewesen. Doch wer hatte ihn geschickt?
Wodan selbst, der göttliche Stammvater des Xantener Königsgeschlechtes? Siegmund, sein toter Vater? Oder der unheimliche Mann in Grau?
Die graue Gestalt war vielleicht das seltsamste Erlebnis dieser an Seltsamkeiten nicht armen Nacht. Am Ende des Königswaldes, wo die Bäume spärlicher wurden, hatte Siegfried plötzlich diesen Mann erblickt. Tief verhüllt in einen weiten grauen Mantel, eine Kapuze über den Kopf gezogen, stand er dort, auf einen langen Stab gestützt, und erhob die rechte Hand, wie eine Warnung. Dann war Siegfried auch schon an ihm vorbeigeritten, gehetzt von den wilden Wölfen.
»Haaalt!«
Reinholds langgezogener Ruf riß Siegfried aus den Gedanken. Er mußte Graufell zügeln, um nicht gegen Nachtwind zu prallen. Reinhold hatte seinen Rappen mitten auf dem Weg halten lassen.
»Nach links, Junge«, sagte der Schmied und deutete auf einen Durchlaß zwischen hohen Brombeersträuchern. »Dort gibt es eine Lichtung mit einer kleinen Quelle.«
Er stieg aus dem Sattel und ging voran, führte den Rappen zu der Lichtung und achtete darauf, daß Nachtwind nicht zu hastig und zuviel trank. Ebenso kümmerte sich Siegfried um Graufell. Die Tiere begannen zu grasen.
Reinhold lehnte sich gegen den hellen Stamm einer verwachsenen Birke und zeigte auf den Grauen. »Graufell war schon einmal ausdauernder. Er ist immer wieder zurückgefallen. Hätte ich Nachtwind nicht dauernd gezügelt, hättet ihr uns längst aus den Augen verloren.«
»Graufell ist noch erschöpft«, bekannte Siegfried, der an der Quelle kauerte und Wasser mit der Hand schöpfte, um seinen Durst zu löschen.
»Von deinem nächtlichen Ausritt.«
Reinholds Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung. Siegfried hielt in der Bewegung inne, und das Wasser rann aus seiner hohlen Hand.
»Ihr wißt es also, Meister Reinhold.«
Sein Ziehvater lächelte und nickte. »Ich kann dich gut verstehen, Junge. Wenn ich ein Pferd wie Graufell hätte, könnte ich auch nicht ruhig schlafen. Ein nächtlicher Ausritt mit dem edlen Tier wäre nicht das, woran ich zuletzt dächte.«
Siegfried war erleichtert, daß Reinhold nichts von dem Abenteuer in der Wolfsburg zu ahnen schien.
»Ja«, sagte er schnell. »Es hielt mich nicht im Bett, aber ich habe meinen Ausflug wohl etwas übertrieben.«
»Ein weniger kräftiges Tier als Graufell hätte sich heute gar nicht aus dem Stall bewegt. Und du bist in der Dunkelheit ganz hübsch von den Zweigen zerkratzt worden.«
»Das habe ich erst bei meiner Rückkehr bemerkt«, sagte Siegfried und fühlte sich nicht wohl dabei, seinen Ziehvater zu hintergehen.
Reinhold erhob sich, überquerte die Lichtung, tätschelte liebevoll Nachtwinds Hals und stieg in den Sattel. »Ich denke, Graufell hat sich genug erholt, um es bis nach Xanten zu schaffen. Dort kann er sich an königlichem Hafer laben.«
Sie erreichten Xanten in der Mittagszeit, noch vor der Friesenflotte. Die Kunde von König Hariolfs Ankunft hatte bereits die Runde gemacht, und die große Stadt am linken Rheinufer bereitete sich emsig auf seinen Empfang vor, auf Festtage voller Frohsinn und guter Geschäfte.
Schuster, Waffen- und Kunstschmiede, Bäcker, Wein- und Fischhändler bauten ihre Stände auf. Seiltänzer und Schlangenmenschen führten Kunststücke vor. Spielleute buhlten mit den lauten, oft schrägen Melodien von Flöte, Trommel, Drehleier oder Rebec um die Gunst des Publikums. Bettler streckten ihre Schalen und Beutel aus, baten darum, daß man sie an diesen fröhlichen Tagen nicht vergessen möge.
Über allem lag ein seltsamer Geruch, ein Gemisch aus dem Duft süßer Speisen und dem Schweiß, den Mensch und Tier bei der Arbeit vergossen.
»Gut, daß wir ohne Gefolge und ohne großen Pomp kommen«, bemerkte Reinhold, während Nachtwind und Graufell sich einen Weg durch die vollen Straßen bahnten. »Schon der edle Herr und sein Knappe, für die man uns hält, werden von reichlich Bettlern und Gauklern aufgehalten. Würden die Leute den Königssohn erkennen, gäbe es für uns kein Durchkommen mehr.«
Siegfried wollte ihm recht geben, aber seine Antwort blieb ihm im Halse stecken.
Die Gestalt dort zwischen all den Bettlern!
Sie gehörte nicht dazu, trotz der grauen Kutte und der Kapuze. Sie drängte sich nicht vor, schrie nicht nach Münzen und Barmherzigkeit.
Stand nur aufrecht da.
Wie in der Nacht.
Grau.
Geisterhaft.
»Paß auf, sonst reitest du das Pack noch über den Haufen!« warnte ihn Reinhold und griff in Siegfrieds Zügel. Gerade noch rechtzeitig, sonst hätten Graufells Hufe eine warzige Alte getroffen, die auf dem Boden hockte und apathisch eine brüchige Tonschale hochhielt. »Wo hast du deine Augen, Junge? War der Nachtritt so anstrengend, daß du jetzt im Sattel einschläfst?«
»Verzeiht«, murmelte Siegfried und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter.
Der Graue Geist war verschwunden.
Sie näherten sich dem Dom, der an der Stelle des vor einigen Jahren niedergebrannten Stiftes entstand. Einige Gebäude waren bereits fertig, andere noch im Bau. Die Steinmetze, Mörtelmischer, Maurer, Zimmerleute und Dachdecker schufteten hier wie jeden Tag, ohne Rücksicht auf den Besuch des Friesenkönigs.
»Der Herrgott hat seine Gläubigen gut im Griff«, meinte Reinhold spöttisch, während er beobachtete, wie vier kräftige Männer in einem Tretwerk schweißnaß auf der Stelle liefen, um einen mächtigen Steinquader auf das Baugerüst zu hieven. »Jedesmal, wenn ich nach Xanten komme, entdecke ich eine neue Kapelle oder einen neuen Turm. Wenn Bischof Severins Leute so weitermachen, wird bald ganz Xanten mit Kirchenbauten überzogen sein.«
»Die Burg gewiß nicht«, sagte Siegfried. Er sprach völlig ernst und ging nicht auf Reinholds Spott ein. Sein Blick ruhte auf den Türmen, Zinnen und langgestreckten Wehrmauern der Burg, die sich am Rheinufer erhob. Über ihr, auf dem Burgfried, wehte das königliche Banner im Wind.
Hier war Siegfried aufgewachsen. Von hier würde er bald über die Niederlande herrschen. Dieser gewaltige Klotz, zusammengesetzt aus unzähligen dicken, festen Steinen, war ihm schon als Kind wie das größte Bauwerk auf Erden erschienen. Der Dom wuchs zwar, aber konnte er jemals die Xantener Königsburg übertreffen?
Unmöglich!
Auch zur Landseite hin schützten die Wasser des Rheins das Bollwerk. Ermöglicht wurde das durch breite Gräben rings um die Burg. Aber heute waren alle Zugbrücken heruntergelassen. Emsige Betriebsamkeit herrschte auch hier. Herolde und Dienstmannen ritten ein und aus. Beladene Wagen und Maulesel zogen in den Burghof, brachten Vorräte, um die hohen Gäste aus dem Norden angemessen zu bewirten.
Die beiden staubbedeckten Reiter wurden erst erkannt, als sie das große Torhaus erreicht hatten. Ein Diener wollte sie zur Königin führen, aber Reinhold meinte, er und Siegfried sollten sich erst frischmachen. Sie beeilten sich mit dem Bad in der dampfstickigen Badestube, die an diesem Tag so überfüllt war, daß sie sich einen der großen Fichtenholzzuber teilen mußten.