Prinz Harko, der sein Ritterschwert noch nicht lange tragen konnte, war eine jüngere Ausgabe des Vaters, mit fast gleicher Haar- und Barttracht. Die fehlenden Furchen der Lebenserfahrung machte er durch die Arroganz wett, mit der er den Xantenern gegenübertrat. Siegfried mochte ihn vom ersten Augenblick an nicht.
Ganz anders verhielt es sich mit Prinzessin Amke, die ein oder zwei Jahre jünger als Siegfried war. Ihr offenes, von ein paar kecken Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht mit den leuchtenden Augen, die alles begierig in sich aufnahmen, zog Siegfried fast magisch an. Ihre freundlichen Züge waren wie eine wärmende Sonne, die alle Kälte ausglich, die von ihrem Vater und ihrem Bruder ausging.
Geheimnisvoll und vollkommen unnahbar wirkte der Mann, den König Hariolf als seinen wichtigsten Ratgeber vorstellte: Markgraf Onno.
Alles an ihm war rot, feuerrot: das Haar, die blutunterlaufenen Augen und das bartlose, von dicken Narben gräßlich entstellte Gesicht. Er trug einen roten Umhang und ritt einen Rotfuchs von kräftiger Farbe. Seine Gestalt war groß und hager, daß Siegfried glaubte, jeden einzelnen Knochen unter der Haut zählen zu können. Langgezogen und schmal war auch das Gesicht, das mit der langen, höckrig-krummen Nase an einen Raubvogel gemahnte.
Siegfried fühlte sich bei Onnos Anblick an den roten Falken erinnert.
Sieglind und Hariolf führten die Gesellschaft zur Burg, in den großen Festsaal. Musikanten spielten auf, und die Edlen nahmen an den Tafeln Platz. Siegfried kam es sehr gelegen, daß er neben der lieblichen Amke saß. Sie verstanden sich gut, und Amke ließ ihn mit keinem Wort und keiner Geste spüren, daß Siegfrieds Vater ihre Mutter auf dem Gewissen hatte.
Auch Sieglind schien das bemerkt zu haben und sagte abends in trauter Zweisamkeit zu ihrem Sohn: »Hariolf und sein Sohn wirken auf mich wie zwei Eisbrocken, die tagelang in der Sonne liegen mußten, um aufzutauen. Amke dagegen ist ein sehr liebreizendes Geschöpf, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Siegfried knapp, nicht wissend, worauf seine Mutter hinauswollte.
Sieglind lächelte. »Ich glaube, die beste Sicherheit für einen dauerhaften Frieden zwischen den Niederlanden und Friesland wäre eine Verbindung zwischen unseren Königshäusern.«
»Eine Verbindung?« wiederholte Siegfried verständnislos.
»Eine Ehe«, präzisierte Sieglind und lächelte erneut.
Als Siegfried begriff, was sie meinte, zog Schamröte auf seine Wangen. »Aber Mutter, Amke ist doch noch ein Kind!«
»Erstens war ich das auch, als ich mit deinem Vater vermählt wurde. Und zweitens hatte ich vor wenigen Stunden noch den Eindruck, daß du sie gar nicht wie ein Kind anschaust.«
Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ging Siegfried zu Bett - und träumte von Amke. Sie lächelte ihn an, und ihre Arme umfingen ihn.
Es war ein höchst angenehmer Traum.
Kapitel 4
Xanten feierte die Ankunft des Friesenkönigs bis spät in die Nacht. Aber irgendwann erstarb die letzte Flöte, war der letzte Becher Wein getrunken, die letzte Pastete verzehrt. Ruhe kehrte ein. Die halbfertigen Türme, von verwegenen Gerüstbauten umrankt, ragten wie versteinerte Riesen in den Nachthimmel, groß genug, um jeden Menschen unbedeutend erscheinen zu lassen.
Zufrieden schritt der Prälat Aurelius über die verlassene Baustelle. Der Mensch sollte vor dem Haus Gottes ebensolche Ehrfurcht empfinden wie vor Gott selbst. Deshalb bauten sie den neuen Dom mit den hohen, himmelstürmenden Türmen. Das Sprichwort, die Kathedralen seien die Bibeln des armen Mannes, hielt Aurelius für äußerst passend.
Aber diese Kathedrale war auch die Bibel des gebildeten Prälaten, nicht nur weil Bischof Severin ihn zum Aufseher über die Bauarbeiten bestimmt hatte. In dieser Stellung hatte Aurelius zwei Gründe, nachts zwischen Bauhütten, halbfertig zusammengezimmerten Bogengerüsten und riesigen Steinblöcken in den verschiedensten Stadien der Bearbeitung hindurchzuwandern. Er überprüfte die Baustelle und konnte sich dabei ganz nah bei seinem Gott fühlen.
Plötzlich nahm Aurelius eine Bewegung wahr. Er blieb stehen und wandte den Kopf. Vor ihm schien eine der steinernen Statuen zum Leben erwacht zu sein.
Das Gesicht war noch unbehauen. Ohne Augen, Nase, Mund. Einfach nur eine halbrunde Fläche. Aber das Ding bewegte sich...
Es lebte!
Ging langsam auf Aurelius zu.
Erleichtert stieß er den angehaltenen Atem aus, als er die Wahrheit erkannte. Es war keine zum Leben erwachte Statue, sondern ein Mensch. Ein Steinmetz, der seine Maske aus feinem Drahtgeflecht trug, als Schutz gegen Staub und Gesteinssplitter. Natürlich, die Gestalt, die im Mondlicht nur undeutlich zu sehen war, kam von der Bauhütte der Steinmetzen. Das mußte Meister Bertram sein.
»So spät noch bei der Arbeit, Meister Bertram?« rief der Prälat. »Oder findet Ihr auch keinen Schlaf?«
Er erhielt keine Antwort. Der Maskierte ging einfach weiter, war nur noch drei Schritte vom Prälaten entfernt.
»Wenn Ihr unter der Maske nicht gut sprechen könnt, nehmt sie doch ab!«
Der Maskierte hatte Aurelius erreicht, blieb dicht vor ihm stehen und zog das Drahtgeflecht über den Kopf.
»Na also, Meister...« Der Prälat stockte, und seine Augen weiteten sich, als er in das Gesicht sah. »Ihr seid es, Herr? Was hat das...«
Diesmal verstummte er nicht freiwillig. Scharfer Stahl, der mit stechendem Schmerz in seine linke Brust fuhr, brachte ihn zum Schweigen. Er krümmte sich, während der andere die Klinge wieder aus seinem Leib zog. Dann fiel Aurelius in den Staub. Noch war ein Funke Leben in ihm. Er dachte an den Brand des Monasteriums vor fünfzehn Jahren und an die beiden Leichen, die man am nächsten Tag gefunden hatte: eine Dirne und den Propst - erstochen. Den Mörder hatte man nie gefaßt, zum Unglück und Schrecken für alle Geistlichen Xantens.
Immer wieder hatte der Unbekannte zugeschlagen. Manchmal lag mehr als ein Jahr zwischen den Morden. Aber wieviel Zeit auch vergehen mochte, man konnte sicher sein, irgendwann wieder einen ermordeten Mönch oder Priester in den Straßen der Stadt zu finden.
So wie man Aurelius finden würde. Er kannte jetzt die Person des Mörders.
Zu spät...
Ein kräftiger Schnitt durch seine Kehle löschte seine Erkenntnis und sein Leben aus.
Mit einem höhnischen Lächeln starrte der Rächer auf den ausblutenden Leib unter ihm und auf den blutigen Dolch in seiner Rechten. Es war derselbe Dolch mit dem Hirschhorngriff, mit dem er damals den sittenlosen Propst getötet hatte. Sein rasselnder Atem beruhigte sich. Wieder hatte er einen Pfaffen der gerechten Strafe zugeführt. Und ausgerechnet den Prälaten, der den Dombau leitete. Das würde ein schwerer Schlag für den fetten Severin sein!
Der Rächer reinigte seine Klinge am Gewand des Toten. Er wollte sich schon abwenden, da kam ihm ein Einfalclass="underline" War es ein Zeichen, daß in dieser Nacht ausgerechnet Aurelius sein Opfer geworden war? Wollte der Feuergott seinem Diener einen Hinweis geben?
Warum sollte er mit dem großen Feuer warten, bis der Dom fertig war? Warum sollte er es überhaupt zulassen, daß sich eine Kathedrale des falschen Gottes über Xanten erhob?
Diese Nacht war die Nacht des Feuergottes, die Nacht der Rache, des großen Feuers!
Suchend blickte er sich um und erspähte die Bauhütte des Schmieds, der die Werkzeuge für die Bauarbeiten fertigte und ausbesserte. Das Mondlicht fiel auf den klobigen Hammer, der als Zeichen der Schmiedekunst über dem Eingang hing.
Die klapprige Tür aufzubrechen war für den Rächer ein Kinderspiel. Als er zur Esse ging, spürte er die aufsteigende Wärme der Glut im Kohlebecken. Er streckte die flache Hand aus und hielt sie dicht über die Kohlen. Die Glut war nur schwach, aber sie würde ausreichen!