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Der Rächer trat an den großen Blasebalg. Mit raschen, aber gleichmäßigen Bewegungen blies er Luft zwischen die Kohlen, entfachte er die Glut aufs neue.

Er spürte ihre Wärme, die zur Hitze wurde. Sah mit lustvoll geweiteten Augen auf das Rot, das sich ausbreitete, als wolle der Feuergott die ganze Welt verschlingen.

So war es auch damals gewesen, als der Feuergott zum erstenmal zu dem Rächer gesprochen hatte. Aus den Flammen hatte ihn das Gesicht angestarrt: schrecklich und zornig und gebieterisch. Und dann erklang die dröhnende Stimme in seinem Kopf:

Warum duldest du, ein Abkömmling meines Geschlechts, daß die Menschen dem falschen Christengott huldigen? Unternimm etwas dagegen! Sei mein Arm, mein Schwert! Vernichte den falschen Gott und alle, die ihm dienen! Bring das Feuer über die Welt!

Dann war die Nacht gekommen, in der er das Stift niederbrannte - seine »Feuerprobe«. In der nächsten Nacht, als er die Asche zur alten Königsburg brachte und das Blut des Feuergottes in seinen Adern aufnahm, wußte er, daß er wirklich der Auserwählte war.

Mit einer Schaufel glühender Kohlen verließ der Rächer die Schmiede, lief zur nächsten Hütte und schleuderte die Glut auf das Holzschindeldach.

Es knisterte, knackte - und die ersten Flammen schlugen empor.

Weiter! drängte die Stimme in seinem Kopf. Brenne nicht nur die Hütten nieder, zerstöre auch das Haus des falschen Gottes!

Er hetzte zur Schmiede zurück, schob neue Kohlen auf die Schaufel, rannte wieder hinaus - und blieb vor der Schmiedehütte stehen. Unter lautem Geschrei rannten Menschen auf die brennende Bauhütte zu. Mönche oder Laienbrüder, er konnte es nicht erkennen. Es war auch gleichgültig. Wichtig war nur, daß seine Tat entdeckt war.

Zu früh!

Aber andere Nächte würden kommen. Und der Rächer würde wieder zuschlagen. Mit einer Waffe, die viel wirksamer war als Dolch und Feuersbrunst. Andächtig flüsterte er: »Siegfried!«

»Wären nicht zufällig ein paar Laienbrüder von einem auswärtigen Besuch zurückgekehrt, hätte das Feuer nicht so schnell gelöscht werden können«, berichtete aufgeregt Bischof Severin und verschwieg, daß diese weibstollen Kerle ein Hurenhaus aufgesucht hatten. »Aber für den armen Aurelius kam leider jede Hilfe zu spät!«

»Dann besteht kein Zweifel, daß es derselbe Kerl war, der damals das Stift in Brand gesteckt hat«, stellte Reinhold von Glander fest. »Der Mönchsmörder hat wieder zugeschlagen.«

»Kann man denn nichts gegen ihn unternehmen?« fragte Sieglind.

Reinhold runzelte die Stirn. »Niemand weiß, wann er zuschlägt. Vielleicht schon heute nacht wieder oder erst in einem Jahr.«

Sieglind schüttelte den Kopf. »Aber warum ausgerechnet in der letzten Nacht, als Xanten feierte?«

»Vielleicht war das der Grund«, meinte der Bischof und rieb über seine vor Aufregung geröteten Wangen. »Vielleicht wollte er den Trubel ausnutzen, um ungesehen zu verschwinden.«

»Oder er wollte Aufregung in die Friedensverhandlungen bringen«, meinte Reinhold.

Sieglind sah ihn an. »Ihr meint, um den Frieden zu stören?«

Reinhold hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, leider.« Sein Blick glitt zu Siegfried und Amke hinüber, die in einer anderen Ecke des großen Burgsaales über einem Schachbrett hockten. »Vielleicht wäre es klüger, wenn Hariolfs Tochter von unserem Gespräch nichts erfährt. Es könnte zur Beunruhigung unseres Gastes führen.«

»Ein guter Rat, Graf Reinhold«, sagte Sieglind und ging zu den beiden hinüber. »Das große Fest geht weiter. Wollt ihr euch den Trubel nicht ansehen? Eure Schachpartie könnt ihr am Abend beenden!«

Siegfried fühlte sich wohl in Amkes Nähe, und ihr schien es mit ihm genauso zu gehen. Sie liefen durch die Straßen von Xanten, sie lachten viel und tanzten, tranken Honigwasser und probierten alle möglichen Köstlichkeiten. Doch einmal brach Siegfrieds lautes Gelächter über die Possen eines zwergwüchsigen Spaßmachers abrupt ab.

»Was hast du?« fragte Amke. »Der Kerl ist doch lustig!«

»Der Graue Geist!« flüsterte Siegfried, während er zu der seltsamen Gestalt weit hinten in der Zuschauermenge blickte.

»Was meinst du, Siegfried?«

»Ach, nichts«, seufzte er und lächelte Amke an. »Ist schon vorbei.« Und wirklich: Bei seinem nächsten Blick über die Köpfe der Menge war der gespenstische Unbekannte verschwunden.

Kapitel 5

Tief über den Pferdehals gebeugt, ließ Siegfried den grauen Hengst weit ausgreifen. Die Hufe schienen durch die Luft zu fliegen und den Waldboden kaum zu berühren. Daß sie es doch taten, zeigten die Abdrücke, die Graufell hinterließ.

Und die Siegfried seinem Verfolger verrieten! Deshalb war es trotz Graufells Schnelligkeit unmöglich, den anderen Reiter abzuschütteln. Als der junge Xantener das erkannte, änderte er seinen Plan: Er mußte den Abstand zu seinem Verfolger so weit vergrößern, daß er ihm eine Falle stellen konnte. Der dichte Wald, in den er sein Tier lenkte, schien ihm die beste Gelegenheit zu bieten.

Immer wieder streiften Äste und Zweige Pferd und Reiter. Siegfried ritt langsamer, er wollte nicht riskieren, daß der wertvolle Hengst über gefährliche Baumwurzeln stolperte und sich verletzte. Gewaltig wie Bergfriede erhoben sich hier die Bäume, uralt mit ihren verwitterten Borken, düster und geheimnisvoll.

Aber zur Linken schimmerte etwas hell. Neugierig riß Siegfried den Grauen herum und hielt auf das Licht zu. Die Bäume wurden spärlich, wichen Sträuchern und Farnen, die eine große grüne Lichtung mitten im düsteren Wald bildeten. Nur ein Baum erhob sich hier, eine von Bienen umschwärmte Buche mit mächtigem Stamm.

Das Gras, das sich auf der Lichtung ausbreitete und sich bis in die Ausläufer des Waldes erstreckte, brachte Siegfried auf eine Idee. Graufells Hufspuren waren hier nicht so deutlich zu erkennen. Siegfried stieg vom Pferd. Am Zügel führte er den Grauen am Rand der Lichtung entlang und dann wieder in den Wald hinein. Nach etwa zwanzig Schritten hielt er unter einer Eiche mit starken, weitausladenden Ästen an. Von der Lichtung aus war er hier nicht zu sehen.

Nur kurz zog er in Erwägung, sich heimlich abzusetzen. Die Neugier war stärker. Er wollte herausfinden, wer ihn verfolgte. Als er aus dem Lager geschlichen war, hatte er sich sicher gefühlt, denn alle Recken waren auf der Jagd gewesen. Doch schon nach kurzer Zeit hatte er den hartnäckigen Verfolger bemerkt.

»Sei ruhig, Graufell!« ermahnte er den Grauen und strich ihm sanft über Nase und Nüstern. »Gib keinen Laut von dir, was immer auch geschieht!«

Bei einem anderen Pferd hätte er sich kaum darauf verlassen können. Aber Graufell war ein besonderes Tier: verläßlich in jeder Hinsicht. Als Siegfried die Eiche erkletterte und den Hengst nur lose angebunden unter sich zurückließ, zweifelte er nicht daran, daß Graufell ihn verstanden hatte und seinen Befehl befolgen würde.

Siegfried kletterte, bis er freien Ausblick auf die Lichtung hatte. Er machte es sich auf einem dicken, gegabelten Ast bequem, den Rücken an den Stamm gelehnt. Plötzlich blieb sein schweifender Blick an einem großen, gewundenen Felsgebilde hängen.

Die Schlangenhöhle!

Wie eine glückliche Fügung war es ihm erschienen, als seine Mutter und ihre Ratgeber beschlossen, die friesischen Gäste auf eine große Jagd einzuladen - in den Schlangenwald. Reinhold von Glander war auf die Idee gekommen, den begeisterten Jäger Hariolf dadurch freundlich zu stimmen.

Zwar hatte Siegfried die Tage in Xanten genossen, das Wiedersehen mit seiner Mutter und nicht minder das Zusammensein mit Prinzessin Amke. Siegfried hatte das Friesenmädchen in fast jede Ecke seiner Vaterstadt geführt. Insgeheim jedoch hatte er nach der unheimlichen grauen Gestalt Ausschau gehalten.