Aber als Siegfried die Gelegenheit kommen sah, auch die zweite Hälfte des Runenschwertes zu holen, war ihm dies noch wichtiger als die liebliche Amke. Es war wie ein Lockruf, dem er folgte, um das Erbe seines Vaters anzutreten.
Geräusche, erst leise, dann immer lauter, lenkten seine Aufmerksamkeit wieder auf die Lichtung. Zweige brachen, und ein Pferd schnaubte erschöpft.
Ein Schatten fiel aus dem Waldunkeclass="underline" das Pferd, schlank und lichtbraun, mit dunkler Mähne und dunklem Schweif. Selbst auf diese Entfernung erkannte Siegfried das Tier und auch die Reiterin im goldverzierten Damensattel. Vornehm war ihre Haltung und liebreizend der Anblick des offenen Gesichts.
Was trieb Amke hierher? Warum verfolgte sie ihn?
Langsam ritt sie auf die Lichtung; sie hielt ihre Stute zwischen Farnen und Brombeersträuchern an und schaute sich suchend um. Zum Schutz gegen die grelle Mittagssonne beschirmte sie ihre schönen Augen mit der flachen Hand.
Siegfried lächelte. Das Versteckspiel begann ihm Spaß zu machen. So sehr, daß der Gedanke an die Schlangenhöhle und ihr wertvolles Geheimnis in den Hintergrund trat. Er genoß es, vor Amkes Blicken verborgen, das Mädchen in Ruhe zu betrachten. Es trug zwar teure, aber in gedeckten Farben und ohne aufwendige Stickereien gefertigte Kleider. Einmal mehr bewunderte er die Friesin. Obwohl jung an Jahren, beherrschte sie die höfischen Sitten und wirkte dennoch nicht überheblich oder altklug. Hing es mit dem frühen Tod ihrer Mutter zusammen, daß sie so schnell erwachsen geworden war?
Amke, die sich langsam im Sattel gedreht hatte, erstarrte plötzlich und blickte angestrengt zum Waldrand. Aber nicht in die Richtung, wo Siegfried auf der Eiche kauerte. Ein zottiger Bär trottete im schaukelnden Gang auf die Lichtung und wälzte dabei mühelos Farn und Strauchwerk nieder. Siegfrieds Herz raste, als er erkannte, daß der Bär genau auf die Reiterin zuhielt. Am liebsten hätte er einen Warnschrei ausgestoßen. Doch er befürchtete, daß ein lauter Ruf Amke, ihr Pferd und auch den Bären über Gebühr erschreckte.
Die Stute schien ohnehin gehörig erregt. Sie mochte ein redliches Tier sein, aber für die Jagd war sie nicht ausgebildet. Mit jedem Schritt, den der gewaltige Bär näher kam, stieg ihre Unruhe. Laut schnaubend tänzelte sie hin und her, so daß Amke Mühe hatte, sich im Sattel zu halten.
Nur noch zehn Schritte von der Reiterin entfernt blieb der Bär stehen. Sein Vorderleib mit dem klobigen Schädel pendelte hin und her, während er Amke und die Stute betrachtete. Siegfried, der schon mit Reinhold auf die Bärenjagd gegangen war, kannte dieses Verhalten. Der Bär war sich unschlüssig, ob er es mit einem Freund oder Feind zu tun hatte. Wenn er kein verärgerter Einzelgänger war und keine Bärin, die ihren Nachwuchs schützen wollte, würde er keinen Reiter angreifen. Seine Beute waren eher die Brombeeren auf der Lichtung.
Amkes Stute wurde immer aufgeregter. Sie wieherte laut und stieg auf die Hinterbeine, als der bepelzte Gigant noch einen Schritt näher trat. Amke verlor den Halt, stieß einen spitzen Schrei aus und stürzte aus dem Sattel, mitten in die großen Farnwedel.
Siegfried hielt die Luft an. Es sah so aus, als würde die zu Tode erschrockene Stute ihre Reiterin zertreten.
Dann aber jagte das Tier quer über die Lichtung, schlug einen Haken, um dem Bären nicht zu nahe zu kommen, und preschte ins Unterholz des Waldes. Äste zerbrachen. Das Pferd stieß ein lautes Wiehern aus, bevor es im Zwielicht des Dickichts verschwand.
Und Amke?
Siegfried beugte sich so weit vor, daß er fast von seinem Ast stürzte. Doch so sehr er seine Augen auch anstrengte, von der Friesin konnte er nicht mehr erkennen als einen dunklen Fleck, ein Teil ihres erdfarbenen Gewands. Sie schien vollkommen still zu liegen.
Wollte sie den Bären täuschen? Oder konnte sie sich nicht bewegen, weil... Er weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Plötzlich begriff er, wieviel ihm Amke bedeutete.
Der Bär stieß ein lautes Schnauben aus, das zu einem wilden Heulen wurde. Er stieg auf seine Hinterbeine und richtete sich auf wie ein Mensch. Jetzt erst erkannte Siegfried die volle beeindruckende Größe des Bären.
In den Farn kam Bewegung. Die Blätter schwankten wie die Lanzen eines im Galopp angreifenden Reitertrupps. Mühsam kam Amke auf die Beine. Siegfried fiel ein Mühlstein vom Herzen. Hatte das erregte Geheul des Bären Amke aus der Benommenheit gerissen?
Amke sah den Riesen, der noch immer auf seinen Hinterbeinen stand. Sie begann zu laufen, stolperte, als sich ein Fuß im Brombeergestrüpp verfing, sprang auf und lief weiter, um im Schatten der Buche Schutz zu suchen.
Der Bär sank wieder auf die Vorderbeine. Dann stieß er ein wütendes Schnaufen aus und trottete langsam auf die Buche zu. Das Glück schien Amke verlassen zu haben. Sie hatte genau das Falsche getan, als sie zur Buche lief. Der Baum bot ihr keineswegs Schutz. Der Bär vermochte ihn schneller zu erklettern als ein Mensch. Das Bild der verängstigten Friesin vor Augen, die sich an den Stamm der Buche preßte, sprang Siegfried von der Eiche herab. Unten löste er Graufells Zügel vom Astwerk und zog den Hengst zur Lichtung, wo er sich in den Sattel schwang.
Dann riß er den Spieß hervor, den er Graufell hinter dem Sattel aufgebunden hatte. Mit der Rechten umklammerte er den dicken Eichenholzschaft. Die Stahlspitze glänzte silbrigblau im Sonnenlicht, als Siegfried auf die Lichtung galoppierte.
Amke stand noch eng an die Buche gepreßt, starr wie ein Fels. Entweder hatte sie erkannt, daß jede Bewegung den Bären noch mehr reizen würde, oder die Angst hielt sie im lähmenden Griff. Nur noch fünf Schritte, und der Bär hatte sie erreicht.
»Holla, Meister Petz, dreh dich um!« schrie Siegfried aus voller Kehle. »Die Maid kann dir nicht gefährlich werden, mein Spieß aber schon.«
Ungelenk wandte der wütende Bär sich um und richtete seine Aufmerksamkeit nicht länger auf Amke, sondern auf den schnell heranpreschenden Reiter.
Die Friesin hatte Siegfried mittlerweile erspäht. »Siegfried, nein!« brach es aus ihr hervor. »Greif nicht an! Der Bär wird dich töten!«
Ihr Ruf kam zu spät, schon war Siegfried herangestürmt. Auch der Bär bewegte sich jetzt viel schneller, als es seine gewaltige Leibesmasse und sein behäbigtapsiges Auftreten vermuten ließen. Er spannte die Muskeln unter dem dunkelbraunen Fell, um dem Reiter in die Flanke zu fallen.
Siegfried riß Graufell im letzten Augenblick zurück und entging dem Schlag der krallenbewehrten Pranke. Aber sein Gegenangriff fiel kläglich aus. Der Xantener schaffte es nicht, die Stahlspitze ins Fell des Bären zu bohren. Es langte nur zu einem kräftigen Hieb mit dem Spieß, mitten auf die große schwarze Bärennase. Zu Siegfrieds Überraschung jedoch stieß der Bär einen lauten Schrei aus und vollführte eilends zwei, drei lange Sätze von der Buche weg.
»Der Schlag mit dem Spieß scheint dir nicht gefallen zu haben, Meister Petz!« rief Siegfried. Vielleicht ließ sich der Bär vertreiben, ohne daß Siegfried sein Blut vergoß. Denn war das Tier erst verwundet, konnte es leicht vom Schmerz rasend werden und ohne Rücksicht auf Verluste angreifen.
»Ho, Graufell!« Siegfried schlug die Fersen in die Flanken des Pferdes. »Besorgen wir es dem Brummbären, bevor er merkt, daß eine schmerzende Nase nicht so schlimm ist, wie sie sich anfühlt!«
Als das große Tier Siegfried anreiten sah, richtete es sich halb auf und fuchtelte mit einer Pranke in der Luft herum, wie um den Reiter von sich fernzuhalten. Aber Siegfried mußte mit seinem Spieß gar nicht so nah herankommen. Wieder schlug er zu.
Der Bär sprang erneut erschrocken zurück. Sein Vorderleib pendelte hin und her. Das Tier schien abzuschätzen, ob sich der Kampf lohnte. Erst war nur Amke dagewesen, dann plötzlich Siegfried. Konnten noch weitere Feinde im Dickicht lauern?