Siegfried gönnte dem Bären keine Pause. Unter lautem Geschrei führte er den nächsten Angriff, den Spieß zum neuen Schlag erhoben. Doch der Bär hatte offensichtlich genug. Er wandte sich um, hetzte in schnellen Sätzen über die Lichtung und brach geräuschvoll in das Dickicht.
Als das Tier nicht mehr zu sehen war, ritt Siegfried zur Buche, sprang aus dem Sattel und rammte den Spieß mit der Spitze in den Erdboden. Ehe er noch etwas sagen konnte, lag Amke in seinen Armen und nahm dann sein Gesicht in ihre Hände, um ihn erst auf die Wangen und dann auf den Mund zu küssen.
Eine nie gekannte Wärme erfüllte Siegfried. Die sanfte Berührung ihrer weichen, warmen Lippen ließ ihn die eben noch tödliche Gefahr vergessen. Und sogar die Schlangenhöhle und das Runenschwert waren nicht wichtig in diesen schönen, viel zu kurzen Augenblicken, in denen nichts zwischen dem Xantener und der Friesin zu stehen schien. Kein ruhmloser Feldzug, kein vergossenes Blut, kein Wort und kein Gedanke.
Doch viel zu bald löste sich Amke von ihrem Retter, trat zwei Schritte zurück und dankte ihm mit einfachen, von Herzen kommenden Worten.
»Mir ist nur ein wenig schwindlig«, erklärte Amke mit einem fast entschuldigenden Lächeln.
Das Blut auf ihrer Stirn und der linken Wange stammte zum Glück nur von leichten Schürfwunden. Siegfried reinigte die Wunden mit Wasser aus seinem ledernen Schlauch. Amke hielt still und stieß nicht den kleinsten Schmerzenslaut aus. Siegfried bewunderte ihre Tapferkeit. Sorgfältig verschloß er den Wasserschlauch. »Die Sache ist noch einmal glimpflich ausgegangen. Zum Glück war ich in der Nähe.« Daß er Amke von der Eiche aus beobachtet hatte, verschwieg er lieber. »Du solltest nicht allein durch den Wald reiten, Amke!«
»Ich war nicht allein. Ich habe alles versucht, dich nicht aus den Augen zu verlieren. Auch wenn du eher um das Gegenteil bemüht warst!«
Siegfried war über diesen Vorwurf erbost. »Du hast mich also verfolgt?«
»Ich habe dich nicht verfolgt!« entgegnete sie in beleidigtem Tonfall. Trotz schlich sich in ihr schönes Antlitz.
»So, was dann?«
Er sah Amke an, wie angestrengt sie überlegte. Schließlich verschwanden Trotz und Strenge aus ihrem Gesicht und machten einem nachgiebigen Lächeln Platz.
»Also gut, ich bin dir aus Neugier nachgeritten, als ich gesehen habe, wie du dich heimlich aus dem Lager geschlichen hast, nachdem der Jagdtrupp aufgebrochen war. Ich hörte von deinem verstauchten Fuß und fand es merkwürdig, daß du trotzdem einen Ausflug unternimmst. Übrigens merkt man dir gar nicht an, wie sehr dein Fuß schmerzt!«
»Es war nur eine Ausrede, um allein losreiten zu können.«
»Warum? Was hast du vor?«
Siegfried zwang sich, nicht nach Westen zu sehen, zur Schlangenburg. Mit einem kühlen Unterton erwiderte er: »Das ist nicht von Belang.«
Amke seufzte ergeben und meinte: »Du brauchst es mir nicht zu sagen, ich werde es ja sehen.«
»Wieso?« fragte er und legte den Kopf schief.
»Weil wir zusammen zu deinem geheimnisvollen Ziel reiten werden. Goldflimmer ist in den Wald geflohen. Willst du mich hier ohne Pferd und Schutz zurücklassen?«
Um äußere Ruhe bemüht, stieß Siegfried einen stummen Fluch aus. Hätten seine Mutter oder Bischof Severin die Ausdrücke gehört, wäre eine Beichte mit einer saftigen Buße fällig gewesen. Mindestens drei Nächte durchbeten und eine Woche fasten!
Verzweifelt suchte Siegfried nach einer Lösung. Zurücklassen konnte er Amke tatsächlich nicht. Wenn er sie mitnahm, wäre sein Geheimnis gelüftet. Brachte er sie aber zurück ins Lager, würde das einigen Aufruhr verursachen, und er würde sich kaum ein zweites Mal heimlich davonmachen können.
»Vielleicht ist dein Pferd noch in der Nähe«, sagte er hoffnungsvoll und rief laut nach dem Tier - vergebens. »Versuch du es!«
Amke rief Goldflimmers Namen in alle Himmelsrichtungen, aber auch sie erhielt keine Antwort.
»Ich weiß nicht, ob ich Goldflimmer jemals wiedersehe«, meinte sie traurig. »Sie hatte solche Angst vor dem Bären, daß sie bestimmt bis ans Ende der Welt läuft.«
»Sie war kein gutes Jagdroß.«
Der Trotz kehrte in Amkes Stimme zurück: »Das war auch nicht Goldflimmers Aufgabe!«
»Vielleicht kann uns Graufell helfen.«
Siegfried veranlaßte seinen Hengst, laut zu wiehern, und lauschte angestrengt nach einer Antwort. Wenn das verängstigte Pferd noch in der Nähe war, würde es Graufells Ruf beantworten. Doch kein Laut war zu hören. »Dein Pferd kehrt nicht zurück«, sagte Siegfried mißmutig.
»Graufell scheint stark genug, uns beide zu tragen.«
»Gewiß«, verkündete er nicht ohne Stolz. »Aber ich kann dich nicht mitnehmen. Es ist zu gefährlich - und außerdem ein Geheimnis.«
Amke lachte plötzlich. »Ich weiß doch längst, was du vorhast!«
Ein beklemmendes Gefühl erfaßte Siegfried. Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er bekam kaum noch Luft. Wie war Amke ihm auf die Spur gekommen? Und wenn sie von seinem Geheimnis wußte, wer noch?
»Der Spieß, den du bei dir führst, hat dich verraten, Siegfried«, fuhr Amke fort. »Du bist allein losgeritten, weil du ein ganz besonderes Tier erlegen willst. Niemand sollte es vor dir sehen und dir zuvorkommen. Damit wirst du alle beeindrucken, die wackeren Recken, deinen Lehrmeister Graf Reinhold und auch deine Mutter. Ist es nicht so?«
Siegfried war erleichtert, daß Amke sein Geheimnis nicht kannte. Lächelnd antwortete er: »Ja, so ähnlich verhält es sich.«
»Was für ein Tier ist es?« fragte Amke voller Neugier. »Ein großer Bär wohl kaum, den hättest du eben erlegen können. Ein wilder Eber vielleicht?«
»Es ist ein Geheimnis«, wiederholte Siegfried und kam zu einer Entscheidung. Er durfte diese Gelegenheit, sich die zweite Hälfte des Runenschwertes zu holen, nicht verspielen. Daher sagte er: »Ich werde dich mitnehmen, aber nur unter drei Bedingungen!«
»Drei?« staunte Amke. »Das muß aber ein sehr geheimes Geheimnis sein, das du hütest. Also gut, nenne mir deine Bedingungen!«
»Erstens: Du gehorchst mir aufs Wort, was auch geschieht. Zweitens: Du stellst keine Fragen. Drittens: Du bewahrst über alles Stillschweigen, auch deinem Vater und deinem Bruder gegenüber.«
Sie überlegte eine kurze Weile und fragte dann: »Was ist, wenn ich nicht darauf eingehe? Reitest du dann ohne mich fort?«
Siegfried antwortete nicht, sondern sah fest in ihre grünblauen Augen.
»Also gut«, seufzte Amke unter seinem beschwörenden Blick. Ein kecker Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. »Ich hoffe doch sehr, du wirst mein Versprechen nicht zu unritterlichen Taten mißbrauchen.«
Siegfried lächelte und erwiderte zweideutig: »Ich bin noch kein Ritter, edle Frau.«
»Und ich noch keine Frau«, sagte Amke in demselben neckischen Ton, als Siegfried ihr aufs Pferd half.
Er band den Spieß wieder auf Graufells Rücken, stieg vor Amke in den Sattel und riet ihr, sich an ihm festzuhalten. Er genoß ihre Nähe, die Berührung ihrer Hände und ihres Leibes, den er mit jedem Schritt Graufells an seinem Rücken spürte.
Kapitel 6
»Was ist das?« fragte Amke in einer Mischung aus Verwunderung und Ehrfurcht, als ihr Blick auf einen langgestreckten Felsen fiel. Auf seiner ganzen beeindruckenden Länge von Wald gesäumt, lag er wie ein erschlagener Lindwurm im warmen Sonnenlicht und schimmerte seltsam bläulich, als sei er nicht aus Stein, sondern aus Eisen.
»Unser Ziel«, antwortete Siegfried unbestimmt und ritt an dem schlangenartigen Felsen entlang, bis er das größere Ende erreichte: das Schlangenmaul.
In alten Erzählungen hatte Siegfried gehört, daß sich hier der Eingang zur Höhle befinden sollte. Er mußte Graufell nah an den Fels treiben, bevor er den engen Durchlaß sah. Gebannt starrte er auf den schwarzen Eingang und wartete tatsächlich darauf, daß plötzlich mit erregtem Zischeln eine lange Schlangenzunge hervorzüngelte.