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Als nichts dergleichen geschah, stieg Siegfried ab und half Amke vom hohen Rücken Graufells.

Sie betrachtete interessiert den Schlangenkopf und meinte: »Hier wollen wir also hinein.«

»Wir?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Davon kann keine Rede sein. Ich gehe hinein, du wartest hier.«

»Warum?«

»Weil ich es so bestimme. Erinnere dich an die erste Bedingung, Amke!«

»Ich meinte, warum du in die Schlangenhöhle willst.«

»Keine Fragen, das ist die zweite Bedingung«, ermahnte Siegfried seine Begleiterin. »Halte dich daran und...« Er hielt inne. Plötzlich begriff er, daß sie eben die Schlangenhöhle bei ihrem Namen genannt hatte.

»Du... du weißt, wo wir uns aufhalten?«

»An der Schlangenhöhle.«

Er legte die Hände auf ihre Schultern, so fest, daß Amke zusammenzuckte. »Woher weißt du das?« rief er unbeherrscht. »Woher kennst du diesen Ort?«

Amke schlug seine Hände beiseite. »Ich kenne die Höhle nicht, aber deine Xantener Recken haben erzählt, daß es zur Jagd in den Schlangenwald geht. Als ich einen Diener nach dem seltsamen Namen fragte, erzählte er mir von dem Felsen, nach dem er benannt ist.«

»Und woher weißt du, daß es dieser Felsen ist?«

»Ich bin nicht blind, Siegfried!« Sie deutete auf den gewundenen Felsen. »Wenn jemals ein Ort den Namen Schlangenhöhle verdient hat, dann dieser. Der Fels sieht so aus, als sei er wirklich einmal eine lebende Schlange gewesen.« Leiser, fast andächtig fügte sie hinzu: »Eine unheimlich große Schlange!«

»Ja«, sagte Siegfried gedankenverloren. »Es muß wahrlich ein Riese gewesen sein, der sie versteinerte.«

»Gibt es eine Geschichte zu diesem Ort?« fragte Anke.

Siegfried nickte. »In fernen Zeiten, als Xanten noch ein unberührter Flecken und der Heiland noch nicht geboren war, soll die Riesenschlange die ganze Umgegend in Schrecken versetzt haben. Immer wieder überfiel sie Siedlungen. Je mehr Opfer sie verspeiste, desto größer und hungriger wurde sie. Schließlich fiel sie sogar über die Riesen her, die wegen ihrer Kraft und Größe bislang von der Schlange verschont geblieben waren. Sie tötete alle Riesen bis auf einen. Er war der angesehenste, größte und stärkste Riese des Dorfes. Als er von seiner Jagd zurückkehrte, schwor er der Schlange bittere Rache. Er fand sie und kämpfte mit ihr, aber beider Kraft war gleich, und niemals schien es einen Sieger geben zu können. Da kam der Riese auf den rettenden Einfalclass="underline" Er bewarf die Schlange mit großen Felsen und deckte sie vom Kopf bis zum Schwanz damit zu, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. So lag sie reglos, viele Jahre lang, und versteinerte.«

Amke schüttelte sich, während sie auf den Schlangenkopf starrte. Als sähe sie tatsächlich ein Ungeheuer vor sich.

Siegfried nahm den Spieß und den Packen mit seiner Ausrüstung von Graufell und wickelte eine der Fackeln aus. Dann schüttete er Zunder auf den mit Werg umwickelten und in Harz getränkten Kienspan, den er aufrecht in den felsigen Boden gerammt hatte. Schließlich nahm er einen kantigen Feuerstein und ein handliches Schlageisen zur Hand. Genau über dem Fackelkopf ließ er das Eisen auf den Flint treffen, immer wieder, bis die Funken sprühten, im Zunder zu Flammen wurden und die Flammen den Fackelkopf umleckten. Sorgfältig verstaute er Flint und Eisen wieder in dem großen Ledersack, den Graufell zuvor getragen hatte. Siegfried band ihn auf seinen Rücken und zurrte die Riemen fest.

Als er Fackel und Spieß zur Hand nahm, bat Amke: »Geh nicht, Siegfried!«

»Fürchtest du dich? Wenn Gefahr droht, nimm Graufell und reite heim zum Jagdlager. Er wird den Weg finden.«

»Ich habe keine Angst um mich, sondern um dich, Siegfried!«

Tief in seinem Innern hatte er gehofft, daß sie so etwas sagen würde. Es schmeichelte ihm. Daß Amke sich um ihn ängstigte, bedeutete, daß er ihr nicht gleichgültig war.

»Ich werde zurückkommen«, sagte er und bemühte sich, möglichst zuversichtlich zu klingen. »Solltest du allein ins Lager zurückreiten, verrate niemandem, wo ich bin. Denke immer an die drei Bedingungen!«

Er wollte sich umwenden, um zum Schlangenmaul zu gehen.

»Warte!« rief Amke, trat dicht vor ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Das soll dir Glück bringen.«

Tief gebeugt arbeitete sich Siegfried durch den engen Eingang ins Innere der Höhle vor. Die Felsen waren gezackt und scharfkantig. Wie Zähne eines Untiers schnappten sie nach ihm. Sein Leib und die Beine waren durch festes Rindsleder geschützt, ebenso die Füße, die in kniehohen Stiefeln steckten. Er war froh, diese einfache Kleidung gewählt zu haben. Die edlen Stoffe, die er am Xantener Hof getragen hatte, würden jetzt schon in Fetzen an ihm herunterhängen.

Endlich konnte er sich aufrichten. Er reckte die Arme hoch und streckte seinen ganzen Leib. Die Fackel in seiner Rechten warf trotzig ihren flackernden Schein in den finster gähnenden Felsschlund.

Und Siegfried erschrak...

Er sah Schlangen. Nichts als Schlangen. Schlangen von der Größe eines Riesen.

Von der zerklüfteten Decke ließen sie sich herunter, bereit, sich auf den Eindringling zu stürzen. Und vom Boden reckten sie sich zu ihm empor.

Hunderte von Schlangen hatten ihn eingekreist!

Er faßte den Spieß fester und wußte doch, daß ihm dies kaum helfen würde. Er konnte vielleicht ein, zwei Schlangen durchbohren, aber gleichzeitig würden ihn hundert andere anfallen. Er hatte Amke nicht die ganze Geschichte erzählt. Es hieß, als die Riesenschlange unter den Steinen zur Reglosigkeit verurteilt war, verwandelte sich ihr Leib in unzählige kleine Schlangen. Diese Schlangen hausten fortan in dem Höhlenlabyrinth.

Und wie Schlangen aus Stein wirkten die Tiere, die Siegfried umgaben.

Er hörte kein Schaben, als ihre Leiber über den Stein krochen. Kein Zischeln ihrer ruhelosen Zungen.

Die einzigen Geräusche waren sein heftiges Atmen und das Knistern der Fackel, die grauschwarzen Rauch und beißenden Gestank verströmte.

Dann begriff er, daß es tatsächlich nur Gestein war, auf das er blickte. Schlangen aus Stein. Oder Felsnadeln, die Schlangen ähnelten. Sie wuchsen von der Decke und aus dem Boden. Im flackernden, verzerrenden Schein der Fackel hatte es ausgesehen, als bewegten sie sich.

Siegfried lehnte den Spieß an eine Felswand und wischte mit dem Handrücken über seine feuchte Stirn. Er schalt sich einen Narren, daß er auf das Schattenspiel hereingefallen war. Wie gut, daß Amke ihn nicht so gesehen hatte. Den tapferen Bärenbezwinger, der sich vor ein paar Felsnadeln fürchtete!

Wütend über seine Furchtsamkeit griff er nach dem Spieß und setzte seinen Weg fort. Oft standen die Felsnadeln so dicht, daß er sich mühevoll zwischen ihnen hindurchquetschen mußte. Dann wieder mußte er sich bücken und sogar auf allen vieren kriechen, um weiterzukommen.

Wo genau sein Ziel lag, wußte er nicht. Reinhold hatte von einer tief in der Höhle verborgenen Spalte gesprochen, auf die bei Tag das Sonnenlicht fiel. Nun, die Sonne draußen schien gleißend hell. Gab es diese Spalte, so mußte er sie entdecken. Also begab er sich immer tiefer in den Leib der steinernen Schlange hinein.

Ab und an bemerkte er zur Linken oder zur Rechten Abzweigungen. Da sie zumeist zu eng waren, schenkte er ihnen kaum Beachtung.

Je weiter er in die Höhle eindrang, desto zuversichtlicher wurde er. Bis jetzt hatte er noch keine Schlange entdeckt. Vielleicht würde es einfacher werden als in der Wolfsburg! Doch kaum hatte er diesen Gedanken gefaßt, spürte er, wie etwas seine Füße streifte. Siegfried sprang zurück und schwenkte die Fackel nach unten.

Die Tiere, die um seine Füße huschten, waren so groß wie eine Männerhand, mit langen Schwänzen. Er sah hinab auf braungraues Fell, kleine Spitzohren und krallenbesetzte Pfoten.