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»Ratten!« stieß er ein wenig erleichtert hervor. Dreißig oder vierzig. Hatten sie ihn für eine lohnende Beute gehalten? Dicht über dem Boden schwenkte er die Fackel. Die Hitze trieb die gefräßigen Nager vier, fünf Schritte zurück. Außerhalb dieses Kreises hockten die Höhlenratten und belauerten Siegfried.

Während er sich noch über die mögliche Gefährlichkeit der Ratten Gedanken machte, verschwanden sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Sie bewegten sich so flink, daß Siegfrieds Augen ihnen kaum folgen konnten, und fanden Schlupflöcher, wo der Xantener nur Gestein sah.

Eine Ratte aber war nicht schnell genug; sie wurde von dem Feind gestellt, der die anderen Nager verjagt hatte.

Eine Schlange.

Ihr kräftiger Leib saß zwischen einem kurzen, dünnen Schwanz und einem flachen, dreieckigen Kopf. Sie hatte fast dieselbe braungelbe Färbung wie das Fell der Ratten. Nur am Kopf war das Tier anders gezeichnet: Es sah aus wie ein schiefes Kreuz.

Eine Kreuzotter, zweifellos.

Aber mit ihrer Länge von fast zwei Schritten war sie viel größer als jede Kreuzotter, die Siegfried bisher gesehen hatte.

Blitzschnell bewegte sich die Schlange und stieß vor, den Rachen aufgerissen und die beiden großen, nadelspitzen Giftzähne entblößt. Das Schlangenmaul packte die Ratte, und die Giftzähne bohrten sich in den Leib des Nagers. Die Ratte quiekte wie von Sinnen. Ihr Schwanz peitschte wild herum. So rasch, wie sie das Opfer ergriffen hatte, ließ die Otter auch wieder von ihm ab. Siegfried hatte dieses Verhalten schon bei anderen Ottern beobachtet. Sie warteten darauf, bis die tödliche Wirkung des Giftes eintrat, um ihre Opfer anschließend zu verschlingen. Die Höhlenratte schaffte keine zwei Schritte, bevor sie ermattet zu Boden fiel und in heftigen Zuckungen verendete.

Die Schlange sperrte erneut ihr Maul weit auf und begann, die Beute in aller Ruhe zu verschlingen, Stück für Stück: Kopf, Vorderleib, Hinterleib und schließlich auch den Schwanz. Siegfried beobachtete, wie die Verdickung im Schlangenleib allmählich in Richtung Schwanz wanderte. Seine Vermutung hatte sich durch den schnellen Tod der Höhlenratte bestätigt: Diese Schlange war nicht nur größer als gewöhnliche Kreuzottern, sondern auch giftiger!

Reinholds Warnung, als er von der Schlangenhöhle erzählte, klang ihm noch in den Ohren: Mehr Schlangen als je zuvor sollen sich dort tummeln, vor allen Dingen gefährlichere. Schon der Biß einer Kreuzotter von gewöhnlicher Größe konnte einem Mann gefährlich werden. Dieses Riesentier aber würde selbst einen Hünen wie Siegfried töten.

Siegfried sprang vor und schwang den Spieß, ließ die Stahlspitze hinter dem flachen Kopf in den Schlangenleib fahren. Es war ein kräftiger, gezielter Schlag. Der Kopf mit dem Kreuzmal wurde vom Leib getrennt und rollte quer über den Boden. Der Rest der Schlange wand sich in heftigen Zuckungen. Ein Teil des Rattenschwanzes lugte heraus und fiel in den Todestanz ein, als freue sich der Nager, daß seine Mörderin ihn nicht lange überlebt hatte.

Siegfried sprang über die verendende Otter und setzte seinen Weg fort, noch vorsichtiger als zuvor. Er leuchtete mit seiner Fackel auf den Boden und in jede größere Spalte, um nicht von einer Schlange angefallen zu werden. Schlangen liebten die Wärme, wie er wußte. Man fand sie vornehmlich an sonnigen Plätzen. Aber in einer düsteren Höhle? Andererseits war es hier drin ziemlich warm, wärmer, als er vermutet hatte.

Erst als Siegfrieds Wachsamkeit ein wenig nachließ, griffen die Schlangen an. Als hätten sie nur auf diesen Augenblick gewartet...

Die erste mußte über ihm in einer Felsnische gelauert haben. Sie fiel auf seine rechte Schulter und riß den Rachen auf.

Er sah die drohenden Zähne - und stieß zu.

Die Spießspitze drang in den gedrungenen Leib ein und riß das Tier von seiner Schulter. Mit einer heftigen Bewegung schleuderte er es zur Seite. Es gab ein häßliches, lautes Geräusch, als es gegen eine dicke, aus dem Boden ragende Felsnadel prallte. Etwas stieß gegen seinen linken Unterschenkel. Eine weitere Kreuzotter hatte sich in seinem Stiefel verbissen und versuchte vergeblich, das feste Leder mit ihren langen Giftzähnen zu durchdringen.

Siegfried holte mit der Fackel aus und versengte den schwarzgezackten Leib. Es stank nach verbranntem Fleisch, doch die Otter schaffte es, die Flucht zu ergreifen. Mit einer weitausholenden Bewegung des rechten Arms ließ er die Fackelflamme über den Boden streichen. Gleichzeitig drehte er sich, um mit der Fackel einen Kreis zu ziehen. Plötzlich erkannte Siegfried, daß er von Schlangen umgeben war. Von übermäßig großen, giftigen Kreuzottern!

Als er die Fackel wieder hob, sah er einen Ausweg. Zur Linken verlief ein schmaler Weg um eine Barriere aus Felsnadeln herum. Wenn Siegfried Glück hatte, führte der Gang wieder auf den Hauptweg. Also lief er schnell nach links, bevor die Ottern einen neuen Angriff wagten.

Er glaubte sich schon in Sicherheit, als der Boden unter seinen Füßen nachgab; ein brüchiges Loch im ansonsten festen Fels.

Siegfried versuchte vergeblich, sich durch einen raschen Sprung zu retten. Er stürzte in ein Loch, das so tief war, daß nur noch sein Kopf herausschaute.

In dem Bestreben, sich festzuhalten, hatte er Fackel und Spieß fallenlassen. Sie lagen vor ihm, so dicht, daß er sie mit einem Griff hätte erreichen können - wären seine Arme nicht eingeklemmt gewesen.

So steckte er in dem Loch und sah mit schreckgeweiteten Augen, wie die Schlangen aus dem Dunkel kamen. In aller Ruhe. Sie schienen es nicht eilig zu haben, ihn zu töten. Hilflos mußte Siegfried mit ansehen, wie sie auf ihn zukrochen...

Amke wußte nicht, wie lange sie auf das finstere Loch gestarrt hatte. Längst waren Siegfrieds Schritte verklungen; es war auch nichts mehr vom tanzenden Schein seiner Fackel zu sehen.

Sie fühlte sich einsam und müde. Sie ging zu Graufell, dessen Zügel Siegfried locker um einen Heidelbeerstrauch geschlungen hatte, so daß der prächtige Hengst ausreichend Platz zum Grasen fand. Außerdem konnte er die saftigen schwarzblauen Beeren pflücken, die zwischen den rötlichgrünen Blüten hervorstachen. Aber seltsam, obwohl er zwei Menschen getragen hatte, schien er nicht hungrig zu sein. Unruhig pendelte sein Kopf zwischen dem Schlangenmaul und dem Waldrand hin und her.

Eine Bewegung, die Amke an den großen Bären erinnerte. Und an Siegfrieds mutiges Eingreifen. Als er plötzlich auf die Lichtung galoppierte, war alle Angst um ihr Leben verflogen; sie hatte nur noch um den jungen Xantener gebangt, der ihr in den vergangenen Tagen so sehr ans Herz gewachsen war.

Doch durfte das sein? Durfte sie ihr Herz an den Sohn des Mannes vergeben, der ihre Mutter getötet hatte? Gewiß, ihr Vater war nach Xanten gekommen, um endlich Frieden zu schließen. Aber das bedeutete nicht Versöhnung, schon gar nicht Vergebung. Amke wußte, daß König Hariolf tief in seinem Herzen einen großen Haß auf das Xantener Königshaus empfand. Nicht anders war es mit ihrem Bruder Harko und Markgraf Onno, der im Krieg gegen die Niederlande nicht nur seine Familie verloren hatte, sondern dessen Gesicht auch entstellt worden war.

Amke streichelte den Hengst und legte ihre Wange auf das samtene Fell. Sie genoß die Wärme, die sie spürte. Seit dem Tod der Mutter war ihr nur noch wenig Wärme zuteil geworden.

Ihre sanften Berührungen beruhigten Graufell nicht. Er zerrte so stark an den Zügeln, daß Beeren und Blüten abrissen und zu Boden fielen. Mit gespitzten Ohren blickte er unverwandt zum Waldrand. Amke war alarmiert. Sie wußte, daß Pferde Gefahren wahrnehmen konnten, die ein Mensch weder sah noch hörte. Dann spürte sie es selbst, ganz nah, im Wald...

Sie versuchte, ihre Erregung nicht zu zeigen, und streichelte weiter Siegfrieds Pferd. Aber heimlich glitten ihre Augen über Gras und Strauchwerk zu den Eichen, Buchen, Kiefern und Tannen, die vereinzelt in die Lichtung ragten. Als sie den grauen Schemen bemerkte, verlor sie jede Zurückhaltung und starrte offen zu der Gruppe dunkler Tannen. Doch die Gestalt verschwand, ehe Amke sie noch richtig wahrnehmen konnte.