Hatte der Bär sie verfolgt?
Amke versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß es vielleicht Goldflimmer war, die den Weg zu ihrer Herrin gefunden hatte. Aber warum war die Stute dann nicht auf die Lichtung gekommen? Nein, es mußte ein anderes Wesen sein, das sie beobachtet hatte.
Amke fröstelte plötzlich, trotz der Sonne am wolkenlosen Himmel. Sie hatte Angst vor der unheimlichen Gestalt, die ihr auflauerte. Auch wenn sie das Wesen nicht sah, wußte sie, daß es noch dort war, verborgen im Dunkel und Dickicht des Waldes.
Der Wunsch, nicht hier allein zu sein, wurde übermächtig. Hätte sie das Jagdlager doch niemals verlassen!
Sie dachte an Siegfrieds Rat, bei Gefahr mit Graufell zu fliehen, und löste die Zügel des Pferdes...
Siegfrieds Hände kratzten über den harten Boden, verzweifelt bemüht, das enge Loch zu erweitern, damit er aus seinem Verlies klettern konnte, bevor die Armee der Schlangen ihn erreichte. Wenn er doch nur die Arme bewegen und aus dem Loch strecken könnte, um sich herauszuziehen! Aber so sehr er sich auch anstrengte, er war derart eingezwängt, daß er seine großen Körperkräfte nicht entfalten konnte.
Vor ihm schienen die Schlangen einen bedrohlichen Tanz aufzuführen. Nur vor der zitternder Flamme der Fackel zuckten die Kreuzottern zurück. Keine von ihnen war klein, die meisten größer als üblich. Und alle waren giftig.
Plötzlich hielt das Otterngezücht inne. Die züngelnde Brut teilte sich und machte eine Gasse frei für eine Schlange, die viel größer war als alle anderen. Die Ottern schienen ihr Achtung zu erweisen wie Menschen ihrem König. Im Fackelschein bemerkte Siegfried die Kopfzeichnung der großen Otter. Unter dem Kreuz setzte sich das Muster in einem Gebilde fort, das tatsächlich einer Krone ähnelte. Ein Schlangenkönig oder eine Schlangenkönigin? Siegfried verblieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Die große Schlange hatte ihn fast erreicht. Sie hob den Vorderleib und den Kopf, wie um ihm in die Augen zu sehen. Die dünne, in zwei Spitzen auslaufende Zunge schnellte hervor und berührte seine Wange, ganz leicht nur und auf eine schreckliche Weise zärtlich.
Siegfried zog den Kopf zurück. Ein nutzloses Unterfangen. Die Königsschlange streckte ihren Leib ein wenig vor, und schon fuhr ihre Zunge erneut über sein Gesicht. Als wolle sie mit ihrem Opfer spielen, bevor sie es tötete. Plötzlich riß die Bestie ihr Maul auf und entblößte die fingerlangen Giftzähne. Der Feuerschein verlieh ihnen einen rötlichen Schimmer.
Siegfried wagte nicht, mit den Augen zu zwinkern. Er konnte sich nicht wehren und die Schlange nicht daran hindern, ihn zu töten, wann immer sie es wollte. Aber er glaubte, daß die Königsschlange nicht zustieß, solange er ihren starren Blick erwiderte. Und so hielt er seinen Kopf reglos, sah in ihre roten Augen mit den länglichen, senkrechten Pupillen. Wie schwarze Schlitze wirkten sie. Wie Boote, die in einem Blutmeer schwammen. Und Siegfried verspürte den Drang, sich in dieses Meer zu stürzen, sich in ihm zu verlieren, Erlösung zu finden... Die Königsotter bewegte sich. Doch nicht mit der Schnelligkeit eines zur Erde fahrenden Blitzes, wie es die Ottern beim Angriff taten. Quälend langsam kam ihr Kopf näher. Dicht vor seinen Augen schwebte das graue Band ihres Leibes mit dem Muster aus dicken schwarzen Zacken. Wie das verzauberte Kopfband einer eitlen Frau, das sich, von Geisterhand bewegt, um seine Stirn legen wollte.
Er hörte ein scharfes Zischeln an seinem linken Ohr, als der Kopf der Schlange sein Gesichtsfeld verließ. Er wagte nicht, das Haupt zu drehen, traute sich auch nicht die kleinste Bewegung. Es wäre ihm wie das Zeichen seiner Unterlegenheit erschienen. Wie die Bitte an die Otter, ihn endlich zu erlösen - mit dem Tod!
Die Schlange berührte sein Haar. Wie das sanfte Streicheln seiner Mutter, dachte Siegfried und wehrte sich gegen das angenehme, wohlige Gefühl. Er durfte der tückischen Schlange nicht trauen. Sie mochte ihm Wärme und Zärtlichkeit vorgaukeln, aber sie wollte seinen Tod. Er hielt still. Es war wie ein Pakt, den er mit der Otter geschlossen hatte. Sie ließ ihn leben, solange er sich nicht rührte und eins war mit dem Fels, der ihn umschloß.
Ihr Kopf erschien vor seinem rechten Auge und hielt inne. Ganz nah beieinander, starrten Mensch und Schlange Auge in Auge. Die fadendünne Zunge schoß vor, traf Siegfrieds Auge. Er widerstand dem Drang, es zu schließen, den Kopf jäh zur Seite zu wenden, um die Bestie von sich abzuschütteln.
Die Zunge zog sich von seiner Pupille zurück, fuhr über Nase und Wange. Die Otter schien dieses grausame Spiel zu genießen, schien jeden Fingerbreit von Siegfrieds Gesicht erkunden zu wollen. Er spürte ihren Leib auf seiner Wange, nicht kalt und glitschig, sondern trocken und angenehm warm.
Trügerisch angenehm!
Die Zunge leckte an Siegfrieds Lippen wie zu einem unanständigen, widernatürlichen Kuß. Er konnte nicht länger an sich halten und öffnete den Mund, wollte die Lippen vor der Schlangenzunge retten. Darauf hatte die Otter nur gewartet. Erst nur mit der Zunge, dann mit ihrem Kopf, drang sie in seinen Mund ein. Wollte sie sich mit ihrem ganzen Leib in den Menschen schlängeln?
Siegfried verspürte einen starken Würgereiz, als die fremde Zunge in seinen Rachen vorstieß. Dann biß er zu.
Mit aller Kraft.
Knirschend durchtrennten seine Zähne Schuppen, Haut und Fleisch. Nur für einen winzigen Augenblick. Dann öffnete Siegfried eingedenk des tödlichen Giftes schnell den Mund und spie den Kopf der Otter aus.
Das Schlangenhaupt war nicht ganz vom Leib abgetrennt. Die Königsotter lebte noch und wand sich schmerzerfüllt. Die übrigen Ottern wichen zurück, als wollten sie ihrer Herrscherin im Tod nicht zu nahe kommen.
Die Zuckungen der Königsschlange wurden schwächer, und schließlich lag sie reglos am Rand der Grube. Erregt und erleichtert atmete Siegfried tief durch. Mit jedem kräftigen Atemzug pumpte er neues Leben in seinen Leib. Es war ein gutes, euphorisches Gefühl, den gefährlichen Gegner trotz seiner hilflosen Lage besiegt zu haben. Doch es währte viel zu kurz...
Die Ottern schlängelten wieder auf die Grube zu. Unzählige. Aus allen Richtungen. Sie kamen, um den Tod der Königsschlange zu rächen. Die ersten Tiere hoben ihre Leiber, machten sich zum Todesstoß bereit.
Da sprang eine Gestalt aus dem Dunkel hervor, griff mit einer flinken Bewegung nach Siegfrieds Fackel und strich den qualmenden, stinkenden Brand dicht über den Boden. Gierig fraß das Feuer die Schlangenleiber. Erschrocken von dem neuen, unerwartet in ihrem Rücken aufgetauchten Gegner, zog sich die Schlangenbrut rasend schnell in ihre Schlupflöcher zurück. Binnen weniger Augenblicke war keine einzige Otter mehr im Umfeld der Grube zu sehen.
Froh über seine Rettung und gleichzeitig überrascht starrte Siegfried in Amkes besorgtes Gesicht. Gebückt stand sie vor ihm und hielt die Fackel dicht über den Boden, bereit, sich und Siegfried gegen einen neuen Angriff zu verteidigen. Wie eine Wölfin, die ihren Wurf beschützte.
Aber die Schlangen kehrten nicht zurück; sie waren in die Flucht geschlagen - oder warteten auf eine günstigere Gelegenheit.
»Die Grube!« stieß Siegfried hervor und unterdrückte die drängende Frage, wie Amke hergekommen war. »Sie ist zu eng, ich komme nicht hinaus. Du mußt mir helfen. Nimm den Spieß und verbreitere das verfluchte Loch!«
Amke legte die Fackel an den Grubenrand, so nah, daß sie jederzeit danach greifen konnte, um die Schlangen in die Flucht zu schlagen. Dann nahm sie den Spieß auf und stieß ihn in das Loch. Größere Brocken aus Gestein oder Erdreich lösten sich und rieselten an Siegfried hinab.