Erst nach einer ganzen Weile bemerkte er, daß Amke ihn rief. Ärgerlich wandte er den Blick von seiner Beute.
»Ich dachte schon, du wärst im Stehen eingeschlafen!« rief Amke über das Wasser. »Willst du in der Höhle bleiben, bis es Nacht wird?«
Sie hatte recht. Die Kraft der durch den Schacht einfallenden Sonnenstrahlen ließ nach. Mißmutig verstaute Siegfried den Stahl in seinem Ledersack, den er wieder sorgfältig auf seinen Rücken band.
Als er in den See stieg, blickte er sich forschend um. Jetzt schien ihm ein zweites Ungeheuer gar nicht mehr so verlockend. Zum Glück war alles ruhig. Auf dem kürzesten Weg schwamm er zurück und erreichte unbehelligt das Ufer.
»Hat es sich gelohnt?« fragte Amke, während sie besorgt auf seinen zerschundenen Leib blickte.
»Gewiß.« Er klopfte auf den Ledersack. »Ich habe, was ich wollte.«
»Zum Glück, es war gefährlich genug.«
Siegfried lächelte. »Um das Schwert zu bekommen, hätte ich auch einen Drachen erschlagen.«
»Es gibt keine Drachen«, belehrte ihn Amke. »Außer in den Märchen.«
»Früher soll es welche gegeben haben.« Siegfried sah auf den Ledersack mit seiner Beute und stellte sich vor, wie es sein würde, das Runenschwert im Kampf zu führen - unbesiegbar zu sein. »Falls es noch einen Drachen gibt, werde ich ihn aufspüren und töten!«
»Ja, gewiß«, erwiderte Amke; es klang eher belustigt als überzeugt. »Darf ich das so wertvolle Stück einmal aus der Nähe sehen?«
»Nein!« antwortete er schroff und preßte den Sack an seinen Leib. Er las in Amkes Gesicht Enttäuschung über sein Mißtrauen. Es schmerzte ihn, aber dann gewann der Gedanke an sein Geheimnis die Oberhand. Er durfte es mit niemandem teilen, jedenfalls jetzt noch nicht. Erst, wenn er beide Schwerthälften zusammengeschmiedet hatte.
Wenn er, Siegfried von Xanten, der Herr des Runenschwertes war!
Kapitel 7
»Da ist er ja!« stieß Siegfried überrascht hervor, als er sich durch das enge Loch zwängte und, geblendet vom Tageslicht, mit zusammengekniffenen Augen ins Freie trat. Unbeschadet hatten sie den beschwerlichen Rückweg durch die Schlangenhöhle hinter sich gebracht, ohne daß sich auch nur eine Schlange gezeigt hätte. »Wer?« fragte Amke, die ihm folgte. Siegfried deutete auf den Hengst, der zwischen den Heidelbeersträuchern stand und von den kleinen Früchten naschte. »Ich dachte, du hättest ihn zurückgeschickt.«
»Nicht zurückgeschickt, nur losgebunden.«
Achtlos ließ Siegfried seine Fackel auf einen Felsen fallen und lief auf die Lichtung, zu seinem Pferd, das sich über seine Liebkosungen freute. Die Zügel waren um einen Heidelbeerstrauch geschlungen. »Du mußt dich irren, Amke. Graufell ist fest angebunden!«
Die Friesin lief zu ihm. Sie mußte zugeben, daß Siegfried recht hatte. »Aber ich weiß genau, daß ich seine Zügel von dem Strauch gelöst habe. Ich habe doch überlegt, ob ich zurück ins Lager reiten soll.«
»Vielleicht warst du so aufgeregt, daß du nur gedacht hast, du hättest Graufell losgemacht«, mutmaßte Siegfried.
Amke war fast geneigt, ihm recht zu geben, da schnippte sie plötzlich mit den Fingern. »Ich habe mich nicht getäuscht! Ein anderer muß Graufell festgemacht haben. Denn dies war nicht der Strauch, an den du ihn gebunden hast, Siegfried. Dieser hier ist viel höher!«
Er mußte zugeben, daß sie die Wahrheit sprach. Aber wer hatte das Pferd wieder angebunden?
Der Graue Geist? Aus welchem Grund?
Der Falke? Wohl kaum. Er mochte ein ebenso kluges wie starkes Tier sein, aber zum Anbinden eines Pferdes ebensowenig in der Lage wie Graufell selbst. Oder war der Falke gar kein Tier? War es kein Zufall, daß er und der Graue Geist hier und an der Wolfsburg gemeinsam auftauchten? Gab es ein menschenähnliches Wesen, das die Gestalt eines Vogels annehmen konnte?
Diese Überlegungen waren so verwirrend und beunruhigend, daß Siegfried froh war, als Amke ihn ablenkte. Sie wollte auf der Lichtung und im Wald ein paar Kräuter suchen, um seine Wunden zu behandeln.
»So etwas kannst du?« fragte er erstaunt.
Amke antwortete mit einem koketten Augenaufschlag. »Bei uns Friesen lernt eine vornehme Frau nicht nur sticken. Man sagt, nur ein Friesenmädchen könne eines wackeren Recken Weib sein.«
»So viele Friesenmädchen wird es kaum geben, leider.« Er warf einen mißtrauischen Blick zum Waldrand und sagte: »Geh nicht zu weit in den Wald. Und falls du etwas Ungewöhnliches bemerkst, ruf mich sofort!«
»Ganz wie Ihr befehlt, werter Ritter«, lachte sie und lief über die Wiese.
Siegfried sah ihr nach. Warum mußte sie ausgerechnet König Hariolfs Tochter sein?
Als sie zurückkam, hatte er mehrere Handvoll Heidelbeeren gepflückt. Er fütterte abwechselnd sie und sich selbst mit den Beeren, während Amke ihm Kräuterverbände anlegte. Sie riß dazu Stoffstreifen aus ihrem Kleid. Siegfried fühlte sich wohl in ihren Händen und wünschte sich, es könnte immer so sein. Viel zu schnell mußten sie die Lichtung verlassen. Aber der Tag neigte sich der Abenddämmerung zu. Als Graufell mit seinen beiden Reitern in den Wald eintauchte, herrschte zwischen den Bäumen schon ein Ungewisses Halbdunkel.
Das Jagdlager konnte nicht mehr weit sein, als dumpfer Hufschlag, der nicht von Graufell stammte, auf dem weichen Waldboden erklang. Aus der Düsternis löste sich ein großer Schatten. Zwischen hohen Tannen hielt der Fremde an.
Siegfried zügelte sein Tier und zog den Dolch aus der Scheide. Jetzt vermißte er den Spieß, der irgendwo auf dem Grund des Höhlensees lag. Wäre Amke nicht bei ihm gewesen, hätte er sich nicht so große Sorgen gemacht. Solange sie hinter ihm saß, würde er sich nur schwer verteidigen können.
Leise raunte er ihr zu: »Wenn ich dir ein Zeichen gebe, springst du vom Pferd!«
»Was flüstert Ihr?« erscholl eine fremde Stimme. »Nennt lieber Euren Namen!«
»Nennt Euren zuerst, Fremder!« erwiderte Siegfried mit ebenso lauter, herrischer Stimme.
»Das ist Harko!« rief Amke.
»Amke?« fragte der Schattenreiter.
Er setzte sein Pferd in Bewegung. Es war ein kräftiger, stark-knochiger Mausfalbe. In dem wuchtigen, schwarzledernen Sattel saß Prinz Harko im vollen Jagdgewand, an der Hüfte ein Schwert, den Schild an den Sattel gehängt und einen Spieß in der Rechten.
»Endlich habe ich dich gefunden, Amke! Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht, als dein Pferd ohne dich ins Lager zurückgekehrt ist.«
»Goldflimmer?« rief Amke erfreut aus.
»Das Tier war völlig verängstigt und zerschunden. Seitdem suchen wir dich überall.«
»Ich war bei Siegfried.«
»Das sehe ich«, stieß der Friesenprinz mißmutig hervor. »Aber es bereitet meinen Augen keine Freude. Es schickt sich nicht für die Prinzessin von Friesland, sich allein mit einem Jungen im Wald herumzutreiben!«
»Wir haben uns nicht herumgetrieben!« rief Amke wütend.
»Wieso seht ihr so mitgenommen aus?«
»Siegfried... er hat mich vor einem Bären gerettet. Wäre Siegfried nicht gekommen, hätte der Bär mich getötet!«
»Wo ist denn dieser gefährliche Bär? Habt Ihr Eure Beute nicht mitgebracht, edler Siegfried?«
»Ich pflege lebende Bären nicht an der Leine spazierenzuführen. Hätte ich gewußt, daß ich auf Euch treffe, Prinz Harko, hätte ich es gewiß getan.«
»Wieso lebt der Bär noch, wenn Ihr gegen ihn gekämpft habt?« fragte Harko.
»Weil er vor mir geflohen ist«, erklärte Siegfried.
Harko stieß ein lautes, abgehacktes Lachen aus. »Mir scheint, der einzige Bär, mit dem wir es hier zu tun haben, ist der, den Ihr und meine Schwester mir aufbinden wollt!«