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Siegfried konnte kaum noch an sich halten. Bisher hatte er alles geschluckt: Harkos überheblichen Tonfall und die unterschwelligen Unterstellungen, aber Amke und ihn offen als Lügner hinzustellen, das ging gegen seine Ehre.

»Wäre Eure Schwester nicht bei mir, würde ich Euch ganz etwas anderes aufbinden, Friese!«

Das aufgesetzte Lachen verschwand schlagartig aus Harkos Gesicht. Er stieß den Speer mit der Spitze ins Erdreich und stieg aus dem Sattel. »Nur zu, laßt Euch durch Amke nicht stören, Niederländer!«

Noch bevor Amke ihn zurückhalten konnte, war auch Siegfried vom Pferd gestiegen.

»Ich sehe, daß Ihr noch kein Schwert tragt, also wollen wir ganz ohne Waffen kämpfen!« Harko legte sein Wehrgehänge ab.

Auch Siegfried nahm den Dolch aus der Scheide und rammte die Klinge in den Boden. Bevor er sich aufgerichtet hatte, war Harko schon heran und riß ihn um. Erst als Siegfried stürzte, vernahm er Amkes warnenden Ruf. Sie warnte ihn, nicht ihren Bruder!

Siegfried schleuderte Harko über sich hinweg und sprang auf die Füße. Ein wenig benommen plagte sich auch der Friese wieder auf. Er mochte sehr kräftig sein, war aber anscheinend nicht so flink und gewandt wie Siegfried.

Der Xantener stürmte auf Harko zu, verlangsamte aber plötzlich seinen Lauf und erkannte, daß sein Gegner sich nach links abducken wollte. Also warf sich Siegfried in dieselbe Richtung und riß Harko mit sich.

Amkes Bruder lag unter ihm und versuchte vergebens, Siegfrieds große, kräftige Fäuste abzuwehren. Immer wieder trafen sie das Gesicht des Friesen. Blut floß aus Harkos Nase.

Amke war längst abgestiegen und zerrte an Siegfrieds Schultern, flehte ihn an, von ihrem Bruder abzulassen. Vergebens. Er hörte ihre Worte nicht. Es war wie ihm Rausch. Er fühlte in sich dieselbe Kraft wie in der Schlangenhöhle, als er die Spitze des Runenschwertes in Händen gehalten hatte.

Amke wollte Siegfrieds Leib umfassen, seine Arme festhalten. Er schleuderte sie mit solcher Gewalt zurück, daß sie stolperte und zu Boden stürzte.

Erneut schlug er auf Harko ein, wieder und wieder. Der Friese wehrte sich kaum noch, war halb besinnungslos. Aber Siegfried hörte nicht auf, konnte es nicht...

Bis ihn etwas mit schmerzvoller Härte an der Schulter traf. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte neben Harko auf den Waldboden. Über sich sah er einen Reiter, der sich rot gegen den dunkelblauen Abendschimmer abzeichnete. Rot schimmerte die Kleidung, rot das Pferd und rot das narbige Raubvogelgesicht.

»Seid Ihr ein Prinz oder ein Mörder, Siegfried von Xanten?« fragte Markgraf Onno und blickte aus dem Sattel seines Rotfuchses auf den Xantener hinab. »Wißt Ihr nicht, wann ein Recke den Kampf einzustellen hat, will er nicht seine Ehre verlieren?«

Siegfried antwortete nicht. Sein Blick wanderte von Onno über den blutenden, reglosen Harko bis zu Amke, die am Boden kauerte und ihn anstarrte. Er las in ihren Augen Vorwurf und, fast noch schlimmer, Unverständnis. Sie waren sich heute so nahe gewesen, und jetzt sah Amke ihn wie einen Fremden an.

Der friesische Markgraf stieg vom Pferd und kniete sich neben Harko. Einen Augenblick lang sah sich Siegfried versucht aufzuspringen, Harkos im Boden steckenden Spieß zu greifen und ihn zwischen Onnos Schultern zu jagen. Wenn er Onno und Harko tötete, war das nicht eine angemessene Rache für König Siegmunds Tod im Friesenland? Schon im nächsten Augenblick schämte er sich für diesen Gedanken. Einen Mann hinterrücks zu töten, der das Gastrecht in den Niederlanden genoß! Wie konnte er überhaupt an so etwas denken?

»Harko kommt langsam wieder zu sich«, brummte Onno. »Ich weiß nicht, worum Euer Streit ging, Prinz Siegfried. Aber Ihr und Harko solltet Euch hier und jetzt versöhnen oder zumindest einen Waffenstillstand schließen. König Hariolf setzt auf seinen Besuch ebensogroße Hoffnungen wie Eure Mutter, die Königin Sieglind. Ihr würdet beide arg enttäuschen.«

Siegfried sah ein, daß der Markgraf recht hatte. Gleichzeitig ärgerte es ihn, daß er sich von einem Friesen über sein Verhalten belehren lassen mußte. Mißmutig kehrte er mit Onno, Harko und Amke ins Jagdlager zurück.

Über den Feuern briet das Fleisch der erlegten Tiere, und überall duftete es nach frischem Brot und deftigen Pasteten. Wein, Met und Bier flossen in Strömen. Doch all das vergaßen die von den Tafeln aufspringenden Edelleute, als sie den kleinen Reitertrupp erspähten.

Nachdem sich die Aufregung um Amkes Verschwinden und ihre späte Rückkehr gelegt hatte, erzählten die vier Heimkehrer eine Geschichte, die aus Dichtung und Wahrheit bestand. Der Streit zwischen Siegfried und Harko wurde ebenso verschwiegen wie das Abenteuer in der Schlangenhöhle, dafür wurde Siegfrieds Kampf mit dem Bären ausgeschmückt, um seinen arg zerschundenen Leib zu erklären. Prinz Harko dagegen mußte sich mit einem simplen Sturz vom Pferd bescheiden, was ihn sichtlich erzürnte. Markgraf Onno achtete darauf, daß keine offene Mißstimmung zwischen Friesen und Niederländern auftrat.

Endlich war alles erklärt. Siegfried, Amke, Harko und Onno setzten sich zu König Hariolf, Graf Reinhold, Bischof Severin und anderen hochstehenden Herren an die Tafel der Königin. Das kräftige Holz bog sich fast unter dem reichlichen Mahl, das die Aufwärter um immer neue Köstlichkeiten ergänzten.

Aber Siegfried aß kaum etwas. Er dachte an das Runenschwert und an die Enttäuschung, die er jedesmal zu sehen bekam, wenn sein Blick den von Amke kreuzte. In ihm wollte keine rechte Freude darüber aufkommen, daß ihm jetzt auch die zweite Hälfte der magischen Waffe gehörte. Er fragte sich, ob er an diesem aufregenden Tag mehr verloren als gewonnen hatte.

Kapitel 8

Nach altem Brauch sollte Siegfried die letzten Tage vor seiner Schwertleite in Abgeschiedenheit verbringen, um sich unter der Aufsicht seines Zuchtmeisters auf das bedeutsame Fest vorzubereiten. Er würde nicht nur in den Kreis der waffenfähigen Recken aufgenommen, sondern zugleich zum Nachfolger Siegmunds ernannt werden. Sieglind würde fortan nicht mehr die führende Rolle im Reich der Niederlande spielen, sie würde allmählich an Einfluß verlieren und ihrem Sohn bald nur noch eine Ratgeberin sein.

Obgleich es die Trennung von Amke und seiner Mutter bedeutete, fühlte sich Siegfried erleichtert, als er mit Reinhold zur Schwertburg zurückkehrte. Die große Stadt Xanten war ihm nach der Rückkehr von der Jagd beklemmend eng erschienen. Vielleicht lag es an den unangenehmen Blicken, die ihn trafen: Haßerfüllt begegnete ihm Harko, vorwurfsvoll und traurig Amke.

Er ging allen aus dem Weg, bis er endlich mit Reinhold zur Schwertburg reiten durfte. Das alte, vom Rhein umspülte Gemäuer war ihm in den letzten Jahren eine zweite Heimat geworden, nicht weniger vertraut als die Königsburg von Xanten. Hier war er zum Mann gereift und hatte Freunde gefunden, die wiederzusehen er sich freute: Otter und Wieland.

Sobald Siegfried und Reinhold mit kleiner Bedeckung Xanten verlassen hatten und im lockeren Trab zwischen Feldern und Weiden dahinritten, fühlte Siegfried einen stechenden Schmerz in seinem Herzen. Er bedauerte, ohne ein klärendes Wort von Amke fortgeritten zu sein. Wenn er ein Mann sein wollte, mußte er kämpfen, nicht nur um Gold und Ehre, sondern auch um die Frau, die er liebte. Aber es war noch nicht zu spät, beruhigte er sich. Er würde bald in die Königsstadt zurückkehren und dann ein Mann sein, ein Recke, der Träger des Runenschwertes!

Als Siegfried auf der Schwertburg seine Kammer betrat, um die Schwertspitze der anderen Hälfte beizufügen, war seine Erregung so groß, daß seine Glieder zu zittern begannen. Nach einem prüfenden Blick zur Tür und der erleichternden Feststellung, daß sie verschlossen war, zog er die schwere Holzkiste unter dem Bett hervor. Mit fliegenden Fingern griff er in den Lederbeutel an seinem Gürtel, der den eisernen Schlüssel enthielt.