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»Nicht hier«, ermahnte ihn Reinhold. »Auch wenn der Hof verlassen scheint, kann hinter vielen Ecken ein heimlicher Lauscher verborgen sein. Gehen wir in die Schmiede!«

Sorgsam legte Siegfried sein Bündel zusammen und nahm es auf, bevor er Reinhold in eine der Schmiedehütten folgte. Der Schmied verschloß hinter ihm die Tür und schlug auch die Klappen der scheibenlosen Fenster zu. Das blauschwarze Himmelslicht, das durch den Rauchabzug einfiel, war kaum noch wahrzunehmen. Dafür lag auf dem ganzen Raum ein rötlicher Glanz, den die noch glimmenden Kohlen in der Esse ausstrahlten.

Reinhold griff nach der klobigen, rußgeschwärzten Laterne, die an einer Deckenverstrebung hing. Er löste sie vom Haken und ging mit ihr zur Esse. Er nahm eine der unzähligen Zangen, die an einem dicken Draht vor der Esse aufgehängt waren, und griff damit ein rotglühendes Kohlenstück, das er so lange an das Lampenöl hielt, bis es sich entzündete. Als er die Laterne an ihren angestammten Platz zurückhängte, verbreitete sich ein seltsamer Geruch in der Schmiede. Es roch nach Wald, nach den Beeren, aus denen das Öl gewonnen war.

»Jetzt berichte«, sagte Reinhold. Er setzte sich auf einen wuchtigen Rüsterblock, lehnte den Rücken gegen den Amboß und sah seinen Schüler neugierig an.

Siegfried blieb stehen. Er legte sein Bündel auf eine steinerne Werkbank und erzählte von seinen Abenteuern in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle, von dem einäugigen Wolf und der einäugigen Wasserschlange, von der Königsotter, von dem roten Falken und auch von der schemenhaften Gestalt, dem Grauen Geist. Sogar von dem Streit mit Prinz Harko berichtete er.

»Bei allen Göttern der Alten!« rief Reinhold aus, als Siegfried geendet hatte. »Selbst unser wackerer Spielmann hätte kaum eine unglaublichere Geschichte erzählen können.«

»Ihr glaubt mir nicht?« fragte Siegfried enttäuscht.

»Doch, jedes Wort. Der Beweis liegt dort auf der Werkbank. Trotzdem sind es erstaunliche Abenteuer, die du bestanden hast. Fast noch erstaunlicher ist es, daß du noch lebst! Deine Mutter hätte mich im Rhein ersäufen lassen, hätten die Bestien dir etwas angetan!«

»Es waren wirklich seltsame Bestien. Ich möchte wissen, ob es nur Tiere waren. Und warum erschien zweimal der rote Falke, um mir zu helfen?«

»Tiere können manchmal mehr als Tiere sein, so wie Menschen zuweilen mehr als Menschen sind«, lautete Reinholds rätselhafte Erwiderung. »Vielleicht war der Falke nur ein Vogel und hatte trotzdem den Auftrag, dich zu schützen.«

»Einen Auftrag.« Siegfried überlegte. »Ja, so schien es tatsächlich. Aber wer hat ihm den Auftrag erteilt?«

Reinhold blickte auf das Päckchen mit dem Runenschwert und sagte: »Vielleicht...« Dann erstarb seine Stimme, seine Stirn umwölkte sich, und er schüttelte den Kopf.

»Was wolltet Ihr sagen, Meister?«

»Mir kam da eben ein Gedanke. Aber das ist natürlich Unsinn. Aberglaube, würde Bischof Severin sagen.«

»Vieles, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, würde der Bischof nicht verstehen.«

»Da hast du wohl recht, Siegfried.« Reinholds Schmunzeln galt offenbar der Vorstellung, wie der Bischof von Xanten auf die Geschichte von Siegfrieds Abenteuern reagiert hätte. »Mein Gedanke allerdings würde Seine Eminenz zutiefst erschrecken. Ich dachte daran, daß der rote Falke das Wappentier des Xantener Königshauses ist. Und mir fiel der Glaube der Alten ein, die Seelen Verstorbener könnten in Tiere fahren.«

»Die Seelen Verstorbener...« Siegfried sprach die Worte leise und nachdenklich mit nach innen gekehrtem Blick. Als er die Bedeutung von Reinholds Äußerung erkannte, zerriß der Schleier, der sich auf seine Augen gelegt hatte. Er starrte den Lehrmeister an, als habe sich dieser in ein Untier verwandelt, in den Riesenwolf oder die Wasserschlange. Oder in den roten Falken! »Ihr wollt damit doch nicht sagen, daß mein Vater den Falken gesandt hat?«

»Das war meine heidnische Überlegung. Gewiß ein Frevel in den Augen eines Christen. Allerdings ist auch die Heilige Schrift voll von Wundern.«

»Habt Ihr Beweise für Eure Annahme?« Erregt ging Siegfried zwischen Esse und Werkbank hin und her.

»Das ist keine Sache des Beweises, sondern des Glaubens und Fühlens. Und nicht auf mich kommt es dabei an, sondern ganz allein auf dich, Siegfried. Wenn du glaubst, daß der Falke ein Bote von König Siegmund war, daß dein Vater dir sein Erbe anvertrauen will, dann solltest du das Runenschwert tragen. Andernfalls hättest du die Schwerthälften besser in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle gelassen.«

Zwar war Siegfried von der Offenheit überrascht, mit der Reinhold über Dinge sprach, die von der Kirche als Heidentum verteufelt wurden. Aber insgeheim hatte der junge Xantener ähnliche Überlegungen über den roten Falken angestellt. Wenn der Raubvogel ein Freund und Retter war, warum dann nicht ein Bote des Vaters? Hatte Siegfried an dem Abend, als er zur Wolfsburg ritt, nicht geglaubt, König Siegmunds Gesicht in den Wassern des Rheins zu sehen?

Er erzählte Reinhold, wie er darüber dachte.

»Ich halte deine Gedanken für weise, Siegfried. Die Götter sind mit dir.«

»Wirklich?« fragte er zweifelnd. »Was ist mit dem grauen Schemen, den ich mehrmals sah, dem Grauen Geist?«

»Vielleicht war es nur eine Ausgeburt deiner Phantasie.«

»Aber auch Amke hat ihn an der Schlangenhöhle gesehen.«

»Auch sie kann sich getäuscht haben. Wenn dort aber tatsächlich etwas war, einem Menschen ähnlich, aber doch keiner, so würde ich dabei an den Falken denken. Wer ihn geschickt hat, hat wissen wollen, ob der Vogel dir wirklich Rettung brachte.«

Ein seltsames Gefühl ergriff von Siegfried Besitz. Als wäre er eingehüllt von Wärme und Zuneigung. Niemals in den fünf Jahre seit dem Friesenfeldzug hatte er sich seinem toten Vater so nah gefühlt.

»Wir wollen uns an die Arbeit machen«, rief Reinhold und ging zur Werkbank.

»In der Nacht?« fragte Siegfried.

»Die beste Zeit, um ungestört zu arbeiten.« Reinhold schlug das Tuch auseinander und berührte das zerbrochene Schwert, ganz vorsichtig, als könne er sich daran die Finger verbrennen. Er umfaßte den vergoldeten Griff, hob ihn an und strich über die goldausgelegten Runen am oberen Ende der Klinge. »Diese Runen sind wahrlich ein Geschenk der Götter!«

Siegfried trat zu ihm und fragte: »Was bedeuten sie?«

»Es sind die beiden ersten Buchstaben des Futharks, des Runenalphabets.« Reinhold zeigte auf die erste der Goldfiguren, die aus einer senkrechten Linie mit zwei aufwärts gebogenen, nach rechts führenden Verästelungen bestand. »Dies ist die Rune Fehu.«

»Das klingt wie Vieh«, wunderte sich Siegfried.

»Das heißt es auch und vieles mehr. Fehu symbolisiert die Kraft der Rinder, die sich auf die Menschen überträgt und zugleich die Kraft der Götter ist. Fehu beinhaltet die Macht, alles zu erreichen, und das Feuer der Schöpfung und Zerstörung.«

»Und diese Rune?« Siegfried deutete auf die andere Klingenseite, die ein hufeisenähnliches Zeichen zierte.

»Das ist Uruz, Fehus Gegenstück, die Rune des mächtigen Urs, des Auerochsen. Auch Uruz steht für die Urkraft und die Macht des Feuers. Wo Fehu und Uruz sich mit dem Segen der Götter verbinden, entsteht eine unüberwindliche Kraft.«

Lange starrte Siegfried auf die Runen, gewiß zwei schöne Verzierungen, die jedem Schmied zur Ehre gereichten. Aber konnten davon wirklich magische Kräfte ausgehen? Er fragte Reinhold, ob er daran glaube.

»Das ist nicht wichtig, Sohn. Nur der muß daran glauben, der das Schwert der Götter führt.«

»Wenn es wirklich von den Göttern stammt, kann es auch magische Kräfte besitzen«, stellte Siegfried zögernd fest. Er war sich unsicher, ob es richtig war, die alten Götter neben den Allmächtigen zu stellen. »Aber kann dieses Schwert nicht ebenso von Menschenhand geschmiedet sein?«