»Natürlich kann es das, jedenfalls ist es sehr alt. Aber wenn es ein Mensch war, können doch die Götter seine Hand geführt haben. Deine Väter glaubten jedenfalls, Wodan selbst habe das Runenschwert dem Stammherrn deines Geschlechts überreicht.«
»Erzählt mir die Geschichte!« bat Siegfried.
»Gern, wenn du derweil das Feuer in der Esse schürst.«
Eifrig machte sich der junge Xantener an die Arbeit, blies mit dem doppelten Blasebalg die Glut der Kohlen an, schüttete neue Kohlen aus einem großen Eimer hinzu und verteilte sie mit dem Schürhaken.
»Das Runenschwert soll den Königen von Xanten schon gehört haben, als sie noch keine Könige und Xanten ein unbedeutender Marktflecken war«, begann Reinhold seine Erzählung. »Damals waren die Niederlande noch unter verschiedene Stämme aufgeteilt, und der Stammvater deines Geschlechts war ein Häuptling unter vielen. Als er eines Abends mit seinen Unterführern bei Wildbret und Met saß, ritt ein heruntergekommener Mann auf einer ärmlichen grauen Mähre ins Lager und erflehte seinen Schutz vor Verfolgern, die ihm ans Leben wollten. Diese waren die besten Krieger eines benachbarten Stammes, und die Unterführer rieten deinem Ahnherrn ab, zur Waffe zu greifen. Warum sollte man einen Krieg riskieren wegen eines fremden Bettlers! Als der Fremde aber erzählte, daß er von den Verfolgern heimtückisch überfallen worden sei, zögerte dein Ahne nicht länger, führte seine Mannen gegen die anstürmenden Nachbarn in den Kampf und schlug sie in die Flucht. Der Fremde bedankte sich, bevor er weiterritt, mit der einzigen Kostbarkeit, die er bei sich trug, dem Runenschwert. Der tapfere und rechtschaffene Häuptling und seine Nachfahren sollten es immer zum Kampf für die rechte Sache führen, lauteten die Worte des Fremden. Erst später dämmerte deinem Vorfahren, daß er keinem Menschen geholfen hatte, sondern einem der Götter, die damals noch in Menschengestalt auf Erden wandelten: dem Herrn der Runen selbst, Wodan. Das Schwert erwies sich als unbesiegbar, führte dein Geschlecht von Sieg zu Sieg und schließlich auf den Königsthron.«
»Und Vater hat es zerbrochen«, rief Siegfried kopfschüttelnd, während er einen Moment innehielt, den Blasebalg zu bedienen. »Warum bloß hat er es entweiht?«
Reinhold öffnete die Lippen zu einer Antwort, schwieg aber und legte den Kopf auf die Seite. Er schien zu lauschen. Ehe Siegfried eine Frage stellen konnte, legte der Schmied den Zeigefinger an die Lippen. Er griff nach einem schweren Hammer, schlich zur Tür, riß sie auf und sprang nach draußen.
Siegfried hörte Stimmen, unterdrücktes Stöhnen und ein paar dumpfe Schläge. Dann kehrte Reinhold zurück, in einer Hand seinen Hammer, die andere fest um den Arm eines schlanken Jungen gekrallt.
»Otter!« staunte Siegfried. »Was suchst du hier?«
»Dich und Meister Reinhold«, ächzte Otter. »Hätte ich geahnt, daß ich verprügelt werde, wäre ich nicht gekommen.«
»Warum bist du überhaupt gekommen?« fragte Reinhold mit harter Stimme.
»Ich sah Euch und Siegfried zur Schmiede gehen und bemerkte den aufsteigenden Rauch. Ich dachte, ihr könntet Hilfe gebrauchen. Ihr müßt eine dringende Arbeit verrichten, wenn ihr die Nacht dafür opfert.«
»Wir schaffen es schon allein«, sagte Reinhold abweisend. »Geh jetzt zurück zur Burg, auf der Stelle! Und plappere nicht herum!«
»Lieber versiegele ich meine Lippen, ehe ich mir von Euch die Zähne ausschlagen lasse, Meister Reinhold.« Anscheinend hatte Otter seinen Humor schnell wiedergefunden. Er wünschte dem Freund und dem Lehrmeister gutes Gelingen und lief hinaus, zurück zur Burg.
»Ich mag keine Spione!« stieß Reinhold hervor, als er die Tür wieder schloß.
»Ich glaube nicht, daß Otter spionieren wollte. Er ist ein guter Freund.«
»Wenn du ein guter König sein willst, solltest du dir eins merken, Siegfried: Trau keinem, der sich als dein Freund ausgibt. Besonders dann nicht, wenn du nicht weißt, wer er ist und woher er stammt.«
»Aber Otter weiß es selbst nicht.«
»Das spricht nicht für, sondern eher gegen ihn«, brummte Reinhold und blickte zur Esse. »Das Feuer ist heiß genug. Nun wollen wir unsere Kunst versuchen. Jeder erhitzt eine Schwerthälfte. Vergiß nicht, auf was du zu achten hast!«
»Das Wichtigste beim Feuerschweißen ist die richtige Hitze«, wiederholte Siegfried, was er einst von Reinhold gelernt hatte. »Bringt man die beiden Eisen nicht in die richtige Hitze, verschmelzen sie nicht. Macht man sie zu heiß, brennen sie.«
»Und wie erkennt man, wann die Eisen die richtige Hitze erreicht haben?«
»Weiß muß ihr Glühen sein, und die ersten Funken müssen aufstieben wie die liebestollen Männchen der Glühwürmchen.«
»Gut«, lächelte Reinhold und zog grobe Lederhandschuhe über seine Hände. »Lassen wir die Glühwürmchen tanzen!« Er nahm die Schwertspitze und trat an die Esse.
Auch Siegfried zog Handschuhe an und holte dann die zweite Schwerthälfte.
»Achte darauf, daß wir die Eisen gleichmäßig erhitzen«, sagte Reinhold. »Das beste Weißglühen nutzt nichts, wenn ein Eisen später als das andere erglüht.«
Zur gleichen Zeit schoben sie die abgebrochenen Enden der Eisen ins Feuer. Einer achtete auf die Eisenglut des anderen. Hin und wieder gab Reinhold kurze Anweisungen, wie Siegfried sein Eisen halten sollte.
Siegfrieds Spannung war groß und wuchs noch, als die Eisen wie Feuer zu glühen begannen. Das stählerne Feuer wurde weiß, und dann spritzten die ersten Funken davon.
»Es ist soweit!« rief Siegfried.
»Bei mir noch nicht«, erwiderte Reinhold. »Zieh dein Stück ein wenig aus der Kohlenglut!«
Siegfried befolgte die Anweisung augenblicklich, und nur noch wenige Funken stoben von seinem Eisen.
»Jetzt tanzen auch meine Glühwürmchen«, sagte Reinhold zufrieden und nahm das Eisen aus der Esse. »Los, mein Sohn, auf den Amboß!«
Beide legten ihre Schwertteile auf den großen Amboß in der Nähe der Esse. Und schon schwang Reinhold den Hammer. Kräftige, schnelle Schläge verformten das glühende Eisen. Immer wieder traf der klobige, schwere Kopf die beiden Schwerthälften und trieb sie ineinander.
Reinhold arbeitete wie ein Besessener. Schweißtropfen flogen von seiner Stirn, rannen an seinem Gesicht entlang, liefen in seine Augen - es störte ihn nicht. Erst als er sich aufrichtete und den Hammer an den Rüstblock lehnte, wischte er mit dem rußigen Hemdsärmel über seine Stirn.
»Das war’s«, keuchte er und starrte auf das Schwert, das wieder eins war. »Die Gabe der Götter ist nicht länger zerbrochen. Jetzt müssen wir die Klinge nur wieder in die richtige Form bringen, härten und schärfen.«
Was Reinhold so beiläufig aufzählte, währte den Rest der Nacht. Er und Siegfried gaben sich Mühe wie niemals zuvor. Besonders Reinhold fand immer noch etwas zu verbessern. Er glättete Stellen, deren Unebenheit Siegfried gar nicht aufgefallen war. Wieder und wieder fuhr der Daumen des Schmieds prüfend an den Schneiden entlang. Endlich war er zufrieden. Durch den Rauchabzug schimmerte schon blaßrot die Morgendämmerung. Vögel zwitscherten jenseits der steinernen Wände. In der Schmiedehütte war es stickig. Siegfried schmeckte den Ruß auf seiner Zunge. Er und Reinhold waren vollkommen verschwitzt und hundemüde. So müde, daß Siegfried es kaum genießen konnte, als er das Runenschwert in der Hand hielt. Zweifel überfielen ihn.
»Traust du unserer Arbeit nicht?« Reinhold schaute ihn fragend an.
»Ich denke an die Schwerter, die ich zerbrach.« Mißtrauisch blickte Siegfried zu dem Abkühlblock, an dem seine Klinge zerschellt war.
»Wenn wir gut gearbeitet haben, hält das Runenschwert auch dem Stahl des Blockes stand«, erriet Reinhold seine Gedanken. »Wenn nicht, sollten wir es möglichst bald feststellen. Also versuche es, Junge! Aber führe das Schwert der Götter nicht voller Zweifel, sondern mit Vertrauen!«