Im halbdunklen Gang vor dem Festsaal blieb er stehen, preßte die pochende Stirn gegen die wohltuend kühle Steinmauer und dachte nach. Er mußte mit Amke sprechen, möglichst rasch, um ihr zu erklären, daß er nichts von dem Überfall auf die Friesenflotte gewußt hatte. Und daß er Harkos Tod nicht gewollt hatte, nicht wirklich, nur in diesem einen, verhängnisvollen Augenblick seiner Raserei.
Aber noch war es zu früh. Zu viele Menschen waren noch auf den Beinen, und zu aufmerksam waren die Wächter. Er würde es spät in der Nacht versuchen, wenn auch gute Soldaten müde wurden. Mit diesem halbwegs beruhigenden Gedanken zog er sich auf seine Kammer zurück - und hielt plötzlich inne, als er ein säuberlich gefaltetes Pergament sah. Es lag auf dem Tisch unter dem bronzenen Kandelaber, dessen vier Kerzen brannten. Ein Diener hatte die Kerzen in Siegfrieds Abwesenheit entzündet. Hatte er auch das Pergament unter den Kandelaber geschoben? Oder war es einer der vielen anderen Menschen in der Burg gewesen?
Siegfried fand den Gedanken plötzlich erschreckend, wie viele Menschen Zugang zu seiner Kammer hatten. Er lief zu der großen Eichentruhe mit seinen besten Kleidern und anderen Kostbarkeiten. Das Schloß war unversehrt. Trotzdem öffnete Siegfried die Truhe und war erst beruhigt, als seine Hand über das Runenschwert glitt. Und über das Wehrgehänge, das Reinhold ihm geschenkt hatte.
Der Gedanke an Reinhold, der ihm den Zugang zu Amke verweigerte, entfachte plötzlich große Wut in Siegfried. Seine Rechte umklammerte den Schwertgriff, während er daran dachte, mit der Waffe zurück in den Festsaal zu stürmen und Reinhold zum Zweikampf zu fordern. Sollte der blanke Stahl entscheiden, ob Siegfried zu Amke durfte oder nicht!
Kaum hatte seine Hand das Schwert losgelassen, erkannte er, wie närrisch der Gedanke war. So handelte kein Mann, nur ein dummer Junge. Er gab sich einen Ruck und klappte den schweren Deckel der Truhe wieder zu. Aber er verschloß die große Kiste nicht. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß er das Runenschwert in dieser Nacht noch brauchen würde.
Das Pergament!
In seinem plötzlich aufgewallten Haß gegen Reinhold hatte er es fast vergessen. Er ging zum Tisch und zog es unter dem Kandelaber hervor. Es war glatt und doch recht fest, fast ein wenig wie Samt. Wahrscheinlich aus Kalbshaut hergestellt und daher sehr teuer. Dunkle Tinte schimmerte im Kerzenlicht. Wer immer ihm eine Botschaft sandte, mußte eine wohlhabende, hochstehende Persönlichkeit sein.
Als Siegfried das Pergament auseinanderfaltete, blickte er auf lateinische Wörter, fehlerfrei geschrieben. Die Nachricht war knapp und nüchtern:
Nur Du kannst einen Krieg mit dem Königreich Friesland verhindern, Siegfried. Ich helfe Dir dabei. Komme um Mitternacht in den »Blauen Schwan«. Zu niemandem ein Wort. Und bringe das Runenschwert mit. - Vagabundus.
Voller Erstaunen starrte Siegfried auf die dürren Worte. So kurz und einfach die Botschaft war, so sehr verwirrte sie ihn. Wer war dieser Vagabundus, daß er den Prinzen von Xanten so vertraulich ansprach? Was wußte er von dem Runenschwert? Wie sollte Siegfried den drohenden Krieg verhindern können? Und was machte dieser mysteriöse Vagabundus im »Blauen Schwan«? Die Kaschemme lag in der verrufensten Gegend des Xantener Hafens. Das paßte überhaupt nicht zu dem feinen Pergament, der gestochen scharfen Schrift und dem perfekten Latein.
Natürlich dachte Siegfried an eine Falle. Aber was trieb den Unbekannten, ihn so offensichtlich in einen Hinterhalt zu locken?
Unwillkürlich wanderte Siegfrieds Blick durch den Raum und blieb an der mit Bronze verzierten Truhe hängen. Und bringe das Runenschwert mit.
Gab es jemanden, der sich das magische Schwert aneignen wollte? Aber wenn er von dem Schwert wußte, warum hatte er es nicht gestohlen?
Nur kurz zog Siegfried in Erwägung, seine Mutter oder Reinhold einzuweihen. Wieder sah er auf das Pergament. Zu niemandem ein Wort.
Siegfried wollte nichts verderben. Er mußte jede noch so kleine Möglichkeit nutzen, einen Krieg zwischen den Niederlanden und Friesland zu verhindern. Seit dem blutigen Handstreich auf dem Rhein traute Siegfried seinem Zuchtmeister alles zu. Auch daß Reinhold Amkes Leben opferte, um die Friesen zu besiegen. Für Siegfried gab es nur einen Weg, wenn er auch riskant war: Er mußte der geheimnisvollen Einladung dieses Vagabundus folgen - mit dem Runenschwert!
»Wer seid Ihr? Und wohin des Wegs?«
Der Wachhabende an dem kleinen Nordtor, das nur Lieferanten und Dienstboten benutzten, schnarrte es monoton heraus, fast ohne nachzudenken. Er war ein hagerer, triefäugiger Mann mit stoppeligem Kinn. In gänzlich unsoldatischer Haltung lehnte er mit dem Rücken am dicken Mauerwerk. Seine beiden Kameraden lungerten ähnlich gelassen herum, unterhielten sich leise und stießen hin und wieder ein heiseres Lachen aus. Die Unterhaltung drehte sich offenbar um Huren, die vor einiger Zeit nach Xanten gekommen waren.
»Ich muß in die Stadt«, erklang eine Stimme hinter dem Umhang, den die Gestalt kapuzenartig um den Kopf gelegt und so weit über das Kinn gezogen hatte, daß nur die Augen zu sehen waren.
»Das müßte ich auch«, kicherte der Wachhabende. »Hab’ dort eine hübsche Maid, die Tochter eines Korbflechters. Die wird zwischen ihren drallen Schenkeln feucht wie’n Wasserfall, wenn sie einen Mann nur vor’m Haus vorbeigeh’n hört, was?« Er blickte seine Kameraden an, und sie fielen in sein Gekicher ein. Der Wachhabende räusperte sich und fuhr fort: »Aber ich kann leider nicht weg. Wachverstärkung, wegen dieser fischfressenden Friesenbande, die uns den Krieg erklärt hat. Höchste Aufmerksamkeit hat Graf Reinhold geboten. Und die wird Euch jetzt zuteil, Euer Merkwürden. Also nennt Euren Namen und zeigt Euer Gesicht, oder seid Ihr gar ein friesischer Spion?«
»Wohl kaum«, erwiderte leise der Vermummte und ließ den Umhang so weit fallen, daß sein Gesicht zu sehen war.
Sofort verschwand der spöttische Ausdruck aus dem unrasierten Gesicht des Wachhabenden. Er bemühte sich um eine stramme Haltung, wäre dabei fast gestürzt und konnte gerade noch von einem Kameraden aufgefangen werden. Der unerwartete körperliche Einsatz führte bei dem Wachhabenden zu einem lauten, langen Rülpser, der stark nach gewürztem Met roch.
»Prinz Siegfried!« stieß der Mann überrascht hervor. »Was tut Ihr hier zu so später Stunde?«
»Wie ich gerade sagte, ich will in die Stadt.«
»Ich... ich weiß nicht, ob... ich das gestatten kann«, stammelte der Hagere.
»Wieso nicht?« fragte Siegfried streng. »Seit wann bedarf der Sohn der Königin der Erlaubnis einfacher Wachen, wenn er seine Burg verlassen will?«
Der Wachhabende rieb verlegen sein spitzes Kinn. »Vielleicht, seitdem wir Krieg mit den Friesen haben. Ich sollte wohl besser Graf Reinhold fragen.«
»Graf Reinhold schläft und will nicht gestört werden«, erwiderte Siegfried. »Es war ein anstrengender Tag für ihn. Man vernichtet nicht jeden Tag eine feindliche Flotte.«
»Nein, gewiß nicht«, meinte der Hagere in dem leutseligen Ton, in dem auch der Prinz von Xanten zuletzt gesprochen hatte.
»Die ganze Stadt hat gefeiert. Ihr wohl auch, wie?«
»Was meint Ihr, Herr?« fragte der Wachhabende.
»Na, den Met, den ihr intus habt. Riecht ja, als würde das für eine ganze Armee reichen.«
»Ja, ich habe ein wenig getrunken«, ging der Hagere auf Siegfrieds vertraulich klingende Worte ein. »Das haben ja alle heute.«