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Siegfried nickte verständnisvoll, aber dann erklärte er mit schneidender Stimme, ganz wie ein Befehlshaber: »Nur haben heute nicht alle Wache! Ihr wißt doch, daß es verboten ist, betrunken Wache zu stehen, oder?«

»J-ja.«

»Und ihr kennt auch die Strafe, die darauf steht?«

»Die... Stäupe«, kam die zögerliche Antwort. »Fünfzig Schläge auf den nackten Rücken.«

»Das gilt nur in Friedenszeiten«, erwiderte Siegfried und lächelte den Hageren maliziös an. »Im Kriegsfall sind es hundert Schläge, in besonders schweren Fällen auch nur einer: mit dem Richtschwert auf den Nacken. Ich finde schon, daß es sich bei der Wache an der Königsburg um einen besonders schweren Fall handelt. Ihr nicht, Soldat?«

»Ich...« Der Mann schwitzte plötzlich und wischte mit dem Handrücken über seine Stirn. »Prinz Siegfried, ich wollte nicht... Ich meine, es war nicht meine Absicht...« Er schien nicht mehr in der Lage, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Dicke Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Ich schlage Euch eine Abmachung vor, Soldat. Ihr laßt mich passieren und vergeßt, daß ich hiergewesen bin. Zu niemandem ein Wort, versteht Ihr? Das gilt auch für Eure Kameraden. Dann vergesse ich, in welchem Zustand ich Euch angetroffen habe.«

Der Wachhabende brauchte nicht zu überlegen. Er nickte dankbar. Auch die anderen beiden Wächter schienen einverstanden. Längst lungerten sie nicht mehr herum, sondern standen aufrecht vor ihrem Prinzen, bemüht, ein würdevolles soldatisches Bild abzugeben.

Siegfried beachtete sie nicht weiter und schritt über die schmale Zugbrücke. Erst als er den tiefen Wassergraben überquert hatte und in das Häusergewirr der Stadt eintauchte, blieb er stehen, lehnte sich gegen eine Wand und wischte mit der Kapuze den Schweiß aus seinem Gesicht. Zum Glück hatte der Wachhabende in seiner Angst nicht bemerkt, daß Siegfried kaum weniger aufgeregt gewesen war als er. Er gönnte sich nur eine kurze Pause. Der »Blaue Schwan« lag im Südhafen. Er mußte sich beeilen, wenn er um Mitternacht dort sein wollte. Je näher er dem Hafenviertel kam, desto belebter wurden die engen Gassen. Schiffer, Gaukler, Bettler und jede Menge Hübschlerinnen trieben sich herum. Immer wieder wich Siegfried ausgestreckten Bettlerklauen aus oder schamlosen Huren, die sich ihm in den Weg stellten. Einige der Dirnen waren so unansehnlich, daß er nicht verstand, wie sie überhaupt etwas verdienten.

Der »Blaue Schwan«!

Das Haus war groß, mit mehreren Anbauten, das Hauptgebäude mit einem Obergeschoß. Ein großes Schild mit einem langhalsigen blauen Holzvogel schepperte leise im Nachtwind, der über Xantens Dächern mit den Wolken spielte. Die Fenster waren unverhüllte Löcher, und die Tür unter dem Holzschwan stand weit auf. Es war trotz der Wolken und der sanften Brise eine schwüle Nacht. Gelächter, Geschrei, Gesang und Musik drangen herüber, ein wüstes, lautes Stimmengewirr.

Siegfried schob sich in die Kaschemme hinein. Unter der niedrigen Decke des großen Schankraums stauten sich die widerwärtigsten Gerüche. Bier, Wein, Met und Essensdämpfe gehörten noch zu den angenehmsten. Siegfried wurde von der Enge und dem Gestank beinahe übel, als er sich zum Tresen vordrängte. Immer wieder mußte er die Hände zudringlicher Hübschlerinnen abstreifen. Eins dieser Weiber riß ihm mit einer schnellen Bewegung die Kapuze vom Kopf. Siegfried stockte der Atem, weil er befürchtete, erkannt zu werden. Aber die Dirne lachte rauh und ließ ihre Hand durch sein Haar fahren. »Was für ein hübscher Bursche! Und noch so jung! Du solltest dein schönes Gesicht nicht verstecken. Ich wette, du hast auch sonst einiges zu bieten.«

Sie stand dicht vor ihm, zeigte schwarze Zahnstummel und stank nach Fäulnis und billigem sauren Wein. Siegfried stieß die Frau unsanft von sich. Sie stolperte, stürzte zu Boden und rief ihm wüste Beschimpfungen nach. Einiges kannte er schon von den Dienstboten auf der Schwertburg, aber vieles hätte ihn in anderer Umgebung zum Erröten bringen können. Hier bemühte er sich, ruhig zu bleiben, wie ein Mann, der an so etwas gewöhnt war.

Ein heftiger Stoß brachte ihn ins Taumeln. Wäre er nicht von zwei Schiffern aufgefangen worden, hätte er sich neben der Hübschlerin am Boden wiedergefunden.

»Gut so, Arko!« keifte die grobknochige Dirne. »Zeig’s dem feinen Herrn, der sich zu gut für die feurige Framgard dünkt!«

Siegfried fuhr herum und starrte in ein von Eiterbeulen übersätes Gesicht. Arko war ein Hüne wie Siegfried. Seine felsgroße Rechte war zur Faust geballt. Die linke Hand fehlte. Am Armstumpf steckte eine hölzerne Manschette, aus der eine unterarmlange Klinge mit scharfen, gebogenen Zacken ragte.

Der Lärm in der Kaschemme verstummte abrupt. Um Siegfried und Arko zogen sich die Gäste des »Blauen Schwans« zurück. Niemand schien Lust zu verspüren, sich von Arko aufschlitzen zu lassen, schon gar nicht grundlos.

»Was fällt dir ein, milchgesichtiger Bastard!« kreischte Arko mit einer Stimme, die für seinen mächtigen Körper viel zu schrill wirkte. »Niemand stößt meine Framgard zu Boden, verstanden? Ich werde dir schon feines Benehmen beibringen!«

Zur Bekräftigung seiner Worte spuckte Arko im weiten Bogen aus. Dann machte er auch schon einen Satz nach vorn und schlug mit der scharfzahnigen Klinge nach Siegfried. Der Prinz entging der ungewöhnlichen, aber bedrohlichen Waffe, indem er auf einen niedrigen Tisch sprang.

Arko zeigte sich nur für einen Augenaufschlag verblüfft. Dann krachte seine Rechte unter die Tafelplatte und warf sie von den hölzernen Böcken. Siegfried stürzte zu Boden, zusammen mit unzähligen Karaffen, Tellern und Bechern. Als ein Schatten auf ihn fiel, rollte er sich flink zur Seite. Arkos Armmesser zerhieb eine Tonkaraffe. Bier spritzte nach allen Seiten.

Siegfried sprang auf und schleuderte dem erneut angreifenden Kuppler seinen Umhang entgegen. Arko verfing sich darin wie in einem Fischernetz. Das grobe Wolltuch, das Siegfried eigens für dieses Unternehmen ausgewählt hatte, tat ihm gute Dienste. Arko tapste einen Moment wie ein blinder Tanzbär umher. Mehr als diesen kurzen Moment brauchte Siegfried nicht. Als Arko das Tuch endlich mit wütendem Schnauben abgestreift hatte, spürte er Siegfrieds Klinge an seiner Kehle. Das Runenschwert lag sicher in der Hand. Der Prinz von Xanten fühlte sich plötzlich überlegen und vollkommen Herr der Lage. Es bedurfte nur einer Handbewegung, und Arko hatte seinen letzten Atemzug getan. Alles in Siegfried gierte danach, dem Kuppler das Leben zu nehmen!

Arko stand vollkommen reglos da und wagte kaum zu atmen. Das wütende Feuer in seinen Augen war erloschen. Pure Angst glänzte in ihnen, wie bei einem Tier, das erkannt hatte, daß man es zur Schlachtbank führte.

»Genug Unfug!« rief eine dünne Stimme dicht neben Siegfried. »Hört doch auf zu streiten, Freunde. Baut die Tafel wieder auf und zecht weiter!«

Anfangs sah Siegfried niemanden, als er sich aus den Augenwinkeln umblickte. Dann erst bemerkte er eine kleine Gestalt, die ihm noch nicht einmal bis zu den Ellbogen reichte. So ähnlich mußten die Zwerge ausgesehen haben, von denen sich die Alten erzählten.

»Gebt endlich Ruhe, junger Freund«, bat das Männchen, das flehend zu Siegfried aufschaute. »Ich bin sicher, Arko wird sich bei Euch entschuldigen und Euch eine Karaffe vom besten Met spendieren.«

»Eine ganze Karaffe?« brummte der Kuppler. Als der warnende Blick des Kleinen ihn traf, meinte er: »Also gut, eine Karaffe. Aber nicht mehr!«

»Ich will gar nichts trinken!« sagte Siegfried, während er Arko weiterhin mit dem Runenschwert bedrohte.

»Nichts trinken?« Der Kleine schaute verwundert drein. »Ja, was sucht Ihr dann in meiner Kaschemme?«

»Du bist der Wirt?«

»In ganzer Lebensgröße«, gackerte der Kleine. »Magnus ist mein Name.« Er gackerte noch lauter. »Das kommt aus dem Lateinischen und heißt...«