»Wer ist der Feuergott?« fragte Siegfried.
»Der Gott Loki in seiner schlimmsten Gestalt. Die Verkörperung des alles verzehrenden Bösen!«
»Loki? Ist er nicht ein Freund Wodans, sein Reisegefährte?«
»Das war er, aber seine Boshaftigkeit brachte die Götter immer mehr gegen ihn auf. Als sich die alten Götter von dieser Welt zurückzogen, weil der Christengott ihren Platz einnahm, witterte er die Gelegenheit, sich zum mächtigsten Gott aufzuschwingen. Mit Hilfe treu ergebener Vasallen wie Reinhold will er die Welt beherrschen!«
»Aber kämpft er nicht für alle Götter?«
»Das mag Reinhold glauben. Doch Götter wie der dämonische Loki kämpfen nicht für andere.«
Siegfrieds Sorgen wuchsen ins Unermeßliche. Das Reich war in großer Gefahr. Reinholds Krieg gegen die Friesen würde viele Unschuldige das Leben kosten. Siegfried mußte an seine Mutter denken. Auch sie hatte sich von Reinhold täuschen lassen. Würde sie tatsächlich nichts von Reinholds Intrigen erahnen?
Und die Sorge um Amke trieb Siegfried um. Daß sie Reinholds Gefangene war, wog schon schwer genug. Aber was würde geschehen, wenn der Verräter die Friesen unterworfen hatte und die Prinzessin nicht mehr benötigte? Siegfried mochte sich gar nicht ausmalen, was Reinhold mit ihr anstellen würde. Daß sein Vater, König Siegmund, noch am Leben war, erfreute zwar Siegfrieds Herz, aber es änderte seine Lage keinen Deut. Grimbert und er saßen in der Falle, ohne das Unheil, das dem Reich drohte, abwenden zu können. Nichts schien Anlaß für Hoffnung zu geben. Die Nächte wurden zu Tagen und die Tage zu Nächten...
Die Nacht war schwärzer als das Reich der Toten. Dicke graue Wolken ballten sich am Himmel. Nicht ein einziger zaghafter Strahl des Mondlichts spielte mit den Wassern des Rheins, die, finster wie der Himmel, an der Felsinsel im Strom vorbeiglitten. Es war kühler als in den vorangegangenen Nächten, aber nicht deshalb zog Ludolf die Wolldecke fester um seine Schultern. Er fröstelte. Diese verfluchte Nacht war schuld. Und der Fluß, der im Dunkeln wie ein lebendiges Wesen wirkte.
Eine große Welle klatschte an den Felsen, auf dem Ludolf stand. So stark, daß Wasser gegen seine Beine schlug. Wie die kalte Hand eines Wassergeistes, die ihn in den Fluß zerren wollte. Erschrocken sprang Ludolf einen Schritt zurück und stolperte über eine Unebenheit des Gesteins. Er wäre gestürzt und ins Wasser gefallen, hätte ihn nicht eine starke Hand an der Schulter gepackt.
»Was hast du?« fragte Bruno, der zusammen mit Ludolf an der Ostseite der Felsinsel Wache schob.
»Der Rhein!« Ludolf schluckte mehrmals. »Er wollte mich mit sich reißen!«
Bruno schüttelte den Kopf und lachte schallend. »Du bist ein solcher Feigling; du siehst selbst im Fluß Gespenster.«
»Spotte nicht über die Flußgeister!« mahnte Ludolf im Flüsterton und warf einen sorgsamen Blick aufs Wasser. »Sie werden es sonst böse vergelten!«
»Dir haben sie es schon vergolten«, erwiderte Bruno. »Indem sie deinen Verstand vernebelt haben.« Er nahm seinen Speer und den Schild auf, die an einer Felsmauer lehnten. »Ich mache mal einen kleinen Rundgang, um die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Kommst du mit?«
Ludolf schüttelte den Kopf. »Nein, nicht bei dieser Dunkelheit. Der Fels ist naß und rutschig. Man kann zu leicht in den Fluß fallen.«
»Ja, wenn man vor Angst nicht mehr richtig seine Füße zu setzen versteht.«
Ludolf schickte dem sich entfernenden Kameraden ein paar wüste Verwünschungen nach, doch Bruno hörte ihn nicht oder gab nichts auf seine Worte. Er ging die langgezogene Ostseite der Felsinsel nach Süden ab, flußaufwärts, zwischen dem reißenden Wasser und den Mauern der Rheinfeste.
Ludolf dachte an die beiden Gefangenen, die seit neun Nächten hinter den Felsmauern saßen. Ihr Gefängnis lag ganz in der Nähe, an der Ostmauer der Feste. Es waren die beiden friesischen Spione, die sich für Prinz Siegfried und Graf Grimbert ausgegeben hatten. Die Soldaten munkelten hinter vorgehaltener Hand, daß es sich wirklich um Siegfried und Grimbert handeln mochte. Aber selbst wenn es der Wahrheit entsprach, würde Reinhold einen guten Grund haben, die beiden einzusperren. Seine Männer waren dem Grafen treu ergeben. Er sorgte für sie und zahlte einen guten Sold. Andererseits konnte er sehr streng sein, und so wagte niemand, dem Herrn unbequeme Fragen zu stellen.
Als Ludolf wieder nach Bruno ausschaute, war sein Gefährte verschwunden. Gewiß, die Nacht war finster wie die Seele eines Vatermörders, aber Bruno konnte sich noch nicht so weit entfernt haben, daß Ludolf nicht einmal mehr seine Umrisse sah. Ein wissendes Lächeln umspielte Ludolfs Lippen, als er das Spiel seines Kameraden zu durchschauen glaubte. Halblaut rief er in die Nacht: »Du brauchst dich nicht länger zu verstecken, Bruno. Mir kannst du keine Angst einjagen. Da muß schon ein richtiger Wassergeist kommen!«
Keine Antwort. Nur das Rauschen und Gurgeln des Flusses. So sehr Ludolf sich auch bemühte, er vermochte keine Regung um sich wahrzunehmen. Noch einmal rief er nach dem Kameraden und forderte ihn auf, das kindische Spiel zu lassen.
Plötzlich erhob sich eine Gestalt in der Finsternis und winkte ihm zu. Also hatte der vermaledeite Bruno sich doch einen Spaß mit ihm erlaubt!
»Ist es dir auf dem Felsboden zu kalt geworden?« fragte Ludolf und spürte, wie erleichtert er war.
Doch statt zu antworten, war Bruno aufs neue verschwunden. Er schien sich hinter einem Felsen zu verstecken.
»Jetzt ist meine Geduld zu Ende«, knurrte Ludolf und setzte sich in Bewegung. Etwas riet ihm, nicht weiterzugehen. Vielleicht gab es doch irgendwo Wassergeister, die dem Fluß entstiegen waren. Aber seine Neugier war größer. Hinter einem kaum kniehohen Felsen entdeckte er Bruno reglos am Boden.
»He, such dir eine bequemere Schlafstatt!« rief Ludolf und stieß den Kameraden mit der Stiefelspitze an. Bruno rührte sich nicht. Voller Zorn über die Narretei seines Gefährten stieß Ludolf noch einmal zu. Als Bruno sich immer noch nicht regte, begannen erste Zweifel an ihm zu nagen, ob alles mit rechten Dingen zuging. Vorsichtig beugte er sich vor. Um sich abzustützen, griff seine Hand nach einem Felsen, und da spürte er etwas Klebriges. Seine Hand zuckte zurück. Blut klebte an ihr.
Wie um Ludolf zu verhöhnen, zeigte sich in diesem Augenblick ein Riß in der Wolkendecke. Nur ein winziger Strahl Mondlicht drang hindurch, doch er genügte, Ludolf das Schreckliche zu offenbaren: Bruno lag in einer großen Blutlache, die Augen vor Schreck geweitet, der Blick gebrochen. Jemand hatte seine Halsberge zerrissen und Brunos Kehle grausam zerfleischt. Noch nie hatte Ludolf eine so gräßliche Wunde gesehen, wie von einem tollwütigen Wolf gerissen. Er war fast froh, als sich der Wolkenvorhang wieder schloß und sich gnädige Finsternis über der Rheinfeste ausbreitete.
Hinter sich vernahm er plötzlich ein Geräusch: ein Plätschern, als steige etwas aus den Fluten hervor. Ludolf bereute, daß er Speer und Schild nicht mitgenommen hatte. Er wollte das Schwert aus der Scheide ziehen, doch die eng umgelegte Wolldecke behinderte ihn dabei. Ärgerlich streifte er sie ab. Als er sich dann umwandte, begriff er in einem langen schrecklichen Augenblick, daß er Bruno in den Tod folgen würde. Ein Schatten glitt schneller als jeder Blitz über die Felsen. Ludolf wurde umgerissen. Er spürte noch, wie sich etwas in seiner Halsberge verkrallte und sie mit erschreckender Leichtigkeit zerriß. Ein stechender Schmerz umfing ihn, als scharfe Zähne seine Kehle zerfetzten. Dann hüllte ihn ein warmes, tödliches Dunkel ein.