Sie stießen auf zwei weitere Wächter. Beide waren ebenfalls tot und entsetzlich verstümmelt.
»Warst du das, Otter?« fragte Siegfried.
»Es mußte sein«, antwortete sein Freund knapp. Er steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Als nichts geschah, ließ er weitere Pfiffe folgen. »Der Wind ist stark, aber er weht in die falsche Richtung, uns entgegen. Wieland hört mein Zeichen nicht. Wartet hier, ich werde ihn holen.«
Ohne zu zögern, glitt Otter ins Wasser; er schien fast mit dem feuchten Element zu verschmelzen und verschwand in der Dunkelheit.
»Du hast einen seltsamen Freund«, bemerkte Grimbert nachdenklich, während er Otter nachsah.
Siegfried mußte seinem Oheim recht geben. Otter schien ihm rätselhafter, unheimlicher als je zuvor. Und doch vertraute Siegfried ihm.
Gedämpfter Lärm und Schreie klangen gegen den Wind. Offenbar geriet die Festung in Aufruhr: Man hatte ihre Flucht entdeckt.
Das schnelle Plätschern der Riemenblätter kündigte ein Ruderboot an. Der muskulöse Wieland bediente die Riemen. Ein Bündel lag neben ihm, Otters Kleider. Otter kauerte am Heck und hielt das Außenruder. Kurz vor der Insel sprang er ins Wasser und hielt das Boot im Uferbereich fest.
Siegfried und Grimbert stiegen hinein. Otter versetzte dem Kahn einen Stoß, bevor auch er sich an Bord schwang. Siegfried setzte sich neben Wieland auf die Ruderbank und übernahm einen Riemen.
»Tut mir leid, daß ich euch nicht gehört habe«, sagte Wieland. »Die Strömung hatte mich zu weit abgetrieben.«
Das Boot rauschte mit dem Stromlauf an der Insel entlang. Otter riß das Steuer herum und lenkte das kleine Gefährt quer zur Strömung, dem linken Ufer entgegen. Sie glitten an der Nordspitze der Rheinfeste vorüber. Plötzlich ging über der Insel ein hell leuchtender Stern auf, er schien sich unbemerkt durch die Wolkendecke geschmuggelt zu haben. Doch das Licht entstammte nicht göttlicher Kraft, sondern Menschenhand.
»Das Leuchtfeuer!« stieß Wieland hervor. »Sie geben Alarm. Auf der Schwertburg wird man das Feuer sehen und wissen, daß die Gefangenen entflohen sind. Bald wird man das ganze Ufer absuchen. Vielleicht sollten wir zum anderen Ufer fliehen.«
»Du vergißt, daß unsere Pferde am linken Ufer stehen«, ermahnte Otter den Gefährten. »Rudert lieber schneller!« Siegfried und Wieland taten, was in ihren Kräften stand.
»Ihr habt sogar an Pferde gedacht?« staunte Grimbert.
»Vier gute Tiere«, verkündete Otter stolz und grinste. »Sie stammen aus Reinholds Zucht.«
»Wie kamt ihr dazu, uns zu befreien?« fragte Grimbert. »Ausgerechnet in dieser Nacht? Immerhin stecken wir schon eine ganze Weile in Reinholds Kerker.«
»Erst war es nur ein Gerücht, daß ihr auf der Rheinfeste seid«, antwortete Otter. »Aber bei seinem letzten Besuch auf der Schwertburg habe ich Reinhold belauscht, der sich mit Udalrich unterhielt. Sie sprachen darüber, wie Siegfried und Grimbert gefaßt wurden und wie sie Königin Sieglind entmachten wollen. Für Wieland und für mich stand fest, daß wir euch helfen mußten. Ich hätte auch so unbemerkt zur Insel schwimmen können, aber für das Boot benötigten wir eine vollkommen finstere Nacht.«
»Der Bader Udalrich ist also auch in das Komplott verwickelt«, sagte Siegfried finster und erinnerte sich an das Bad, bevor er zur Haselwiese ritt.
Als er davon erzählte, meinte Grimbert: »Es sollte mich nicht wundern, wenn Udalrich dem Bad geheime Kräuter zugesetzt hat, um dir die Sinne zu verwirren.«
»Ich werde diesem gemeinen Verräter den kahlen Schädel einschlagen!« zischte Siegfried. »Und Reinhold soll es nicht besser ergehen!«
»Falls wir noch rechtzeitig kommen«, meinte Otter. Er berichtete mit wenigen Worten, daß die Schlacht gegen das Friesenheer kurz bevorstand. König Hariolfs Truppen hatten bereits ein paar Grenzburgen überrannt und waren auf niederländisches Gebiet vorgedrungen. Diese Vorstöße schürten die Wut der Niederländer und ihre Kriegslust. Reinhold hatte leichtes Spiel, die Waffenpflichtigen zusammenzurufen.
Siegfried erkundigte sich nach seiner Mutter und nach Amke. Sieglind trat seit Siegfrieds rätselhaftem Verschwinden kaum noch in Erscheinung, sie hatte jede Verantwortung in Reinholds Hände gelegt. Über Amke wußten Otter und Wieland nichts Neues zu berichten. Sie war noch immer Gefangene auf der Xantener Königsburg. Für Siegfried war es schon eine Beruhigung, daß sie und seine Mutter noch lebten.
Immer wieder drohte der Rhein das kleine Boot abzutreiben oder umzuwerfen. Aber Otter verstand es, das Boot zu manövrieren, fast wie ein Fährmann oder ein Flößer. Dank seiner Anweisungen umfuhren sie Strudel und Stromschnellen und erreichten schließlich das waldgesäumte Ufer.
»Sehr gut«, meinte Otter und stieg auf dem Uferstreifen in seine Kleider. »Die Pferde stehen ganz in der Nähe.«
»Ich übernehme jetzt die Führung!« sagte Grimbert, als er sich auf einen großen Fliegenschimmel schwang. »Wir müssen zu einem bestimmten Ort, wenn wir Reinholds Pläne durchkreuzen wollen.«
»Was ist das für ein Ort?« fragte Siegfried.
Mit einem matten Lächeln antwortete sein Oheim: »Eine Schmiede.«
Kapitel 13
Der Zufluchtsort, den sie im Morgengrauen erreichten, war nicht nur eine Schmiede, sondern eine kleine Burg. Sie lag auf einem Plateau am Ende eines unzugänglichen Tals, im Nordosten des Königswaldes. Hier lebten Männer, Frauen und Kinder, die Grimbert froh und erleichtert begrüßten. Sie dankten Wodan für die Rettung ihres Herrn. Eine Kapelle entdeckte Siegfried nicht und auch keinen Priester.
Als sie von den Pferden stiegen, klagte Wieland über Schmerzen und Müdigkeit. Auf seine Frage nach einem Schlafplatz schüttelte Grimbert den Kopf.
»Jetzt bleibt keine Zeit zum Schlafen!« sagte er ernst. »Wir müssen uns auf den Kampf mit Reinhold vorbereiten.« Er deutete auf einen länglichen Anbau. »Dort ist die Schmiede. Da treffen wir uns, sobald ich meine Boten und Kundschafter ausgesandt habe.«
Neugierig ging Siegfried mit seinen beiden Gefährten in die Schmiede. Verwirrt überlegten sie, was sie hier sollten.
»Waffen für den Kampf schmieden«, meinte Wieland. »Schwertklingen und Speerspitzen.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Siegfried, denn in Grimberts Worten meinte er einen geheimnisvollen Klang vernommen zu haben. »Es muß um etwas anderes gehen, etwas Besonderes.«
Otter gab ihm recht.
Schließlich erschien Grimbert mit einem großen Rautenschild. Doch der Schild war unvollständig, zwar aus zwei Schichten Lindenholz gefertigt und mit Leder überzogen, aber bar jeder Verzierung.
»Der Schild muß beschlagen werden, mit dem härtesten Stahl, den ihr schmieden könnt.«
»Aber dann wird er sehr schwer«, wandte Wieland ein.
»Das schadet nichts«, erklärte Grimbert. »Siegfried ist kräftig. Sein Arm wird nicht so leicht erlahmen, nicht wenn es gegen Reinhold geht.«
»Der Schild ist für mich?«
Grimbert nickte seinem Neffen zu. »Nur du kannst es schaffen, den guten Runenzauber gegen den schlechten zu führen. Du bist ein Abkömmling Wodans, Prinz von Xanten. Falls der Göttervater sich in die Schlacht wirft, dann für dich!«
»Was sollte ihn dazu veranlassen?« fragte Otter zweifelnd.
»Der Runenzauber, mit dem ich den Stahl versehen werde.« Grimbert legte den Schild auf einen großen Holztisch. »Und nun an die Arbeit!«
Der Blasebalg pumpte, die Kohlen glühten, das Feuer knisterte. Für Siegfried war es fast, als hätte es die letzten Tage nicht gegeben. Als sei er noch immer der Jüngling in Reinholds Schmiede, der seiner Schwertleite entgegenfieberte. Wie unwichtig dieses Ereignis doch geworden war! Dabei hatte Siegfried es lange Zeit für den bedeutendsten Tag in seinem Leben gehalten. Aber jetzt ging es um so viel mehr. Er mußte für die Menschen kämpfen, die ihm am Herzen lagen.