Aber der Riesenvogel war verschwunden! Als wäre er niemals dagewesen. Vergeblich suchte der Reiter den Himmel ab.
»Vielleicht doch nur eine Wolke, vertrieben und zerfetzt vom Wind«, flüsterte er.
Endlich trieb er sein neues Pferd an, den Hügel hinab. Wer wußte schon, wann die nächsten Wolken kamen und die Sicht erschwerten. Das Licht der Gestirne mußte er ausnutzen, um den Weg durch die bewaldete Schlucht zu finden - den Weg zur Wolfsburg.
Die alten Bäume im Tal, hoch und wuchtig, hielten das Nachtlicht zurück. Der Reiter fühlte sich, als zöge er mitten durch ein Heer von Riesen, die nur darauf warteten, auf ihn einzuschlagen. Mit jedem Schritt des Pferdes kam Bewegung in die Giganten, wurden die großen Äste zu Keulen schwingenden Armen. Aber kein Schlag traf den Reiter, und endlich lag der Hügel mit der alten Königsburg vor ihm. Traurig blickten leere Fensteraugen ins endlose Waldland.
Das Gemäuer war halb zerfallen, aber auf den Jüngling wirkte es erhaben. Schließlich war dies der Stammsitz seines Geschlechts, wenn auch seit vielen Menschenaltern verlassen. Die Burg erweckte den Anschein, als hätten Menschenhand und Naturgewalten bei ihrer Erbauung zusammengewirkt. Sie wuchs geradewegs aus dem Fels heraus. Kaum war zu sagen, wo das Felsgestein aufhörte und das Mauerwerk begann. Die zerfallenen Mauern verbanden sich an den Rändern schon wieder mit wucherndem Strauchwerk. Unbeirrbar holte sich Mutter Natur das von den Menschen geraubte Land zurück. Die riesige Eiche, die sich aus der Ruine in den nächtlichen Himmel reckte, erschien ihm als Zeichen überlegener Naturgewalt.
Es war der Kinderbaum - der Schwertbaum!
Bald würde er das Runenschwert in Händen halten. Schon die Vorfreude darauf war ein gutes, erregendes Gefühl.
Aus noch einem anderen Grund hob der Anblick seine Stimmung: Er hatte den Weg zur Wolfsburg in der Nacht gefunden - unbehelligt! So waren all die Geschichten um böse Wölfe, die um die Burg streifen sollten, nichts als Ammenmärchen.
Siegfried stieß ein lautes, befreiendes Lachen aus. Es tat gut, in dieser Grabesstille eine menschliche Stimme zu hören, auch wenn es nur die eigene war.
Sein Lachen erstarb schlagartig, als ein anderer Laut an seine Ohren drang: ein langgezogenes Heulen, das er nur zu gut kannte. Ein Wolf!
Die Hand des Jünglings umfaßte den silberbeschlagenen Dolchknauf an seiner Hüfte, die einzige Waffe, die er mitgenommen hatte. Er war kein Ritter, verfügte nicht über Schwert noch Lanze. Gewiß, nirgendwo in den Niederlanden fand man so viele gute Waffen wie in der Schwertburg. Aber er hatte sich beeilen müssen, und niemand durfte seinen nächtlichen Ausflug bemerken. Deshalb trug er nur seinen Dolch bei sich.
Er schnalzte mit der Zunge und trieb Graufell bergan. Wenn ihn die Wölfe hier im Wald erwischten, hatte er kaum eine Aussicht, ihnen zu entkommen. Aber in der Burg mochte es Möglichkeiten zur Verteidigung geben, vielleicht sogar Waffen!
Mit klopfendem Herzen galoppierte er auf den Hügel. Ein anderes Pferd hätte am Zügel geführt werden müssen, aber Graufell erkletterte die Steigung mit dem Reiter im Sattel. Er hörte nichts außer dem Blutpochen und dem Getrommel des schnellen Hufschlags. Erst als er über die alte, morsche Zugbrücke in den Burghof ritt, stellte er fest, daß der Wolf verstummt war.
Siegfried ließ den Grauen ruhig stehen und lauschte eine ganze Weile angestrengt.
Nichts.
Also hatte das Geheul gar nicht ihm gegolten!
Beruhigt stieg Siegfried aus dem Sattel und band den Hengst an dem Brunnengerüst mitten im Hof fest. Graufell zeigte kaum Zeichen von Anstrengung. Stolz stellte der Reiter fest, daß er sich ein gutes Tier ausgewählt hatte.
Die Krone der mächtigen Eiche wies ihm den Weg. Ein überdachter Gang führte zu ihr. Langsam setzte der Jüngling einen Fuß vor den anderen. Er zögerte, weil er nicht wußte, was ihn am anderen Ende des Ganges erwartete. Er kannte nur Geschichten, Legenden.
Würde er wirklich seine Vergangenheit finden - und seine Zukunft?
Im letzten Drittel des Ganges hielt er plötzlich an. Wie aus dem Nichts war etwas vor ihm aufgetaucht.
Ein Wesen, riesenhaft, dunkel, bedrohlich.
Es verfügte nur über ein einziges Auge, aber das war groß und rot, wie von flüssigem Feuer erfüllt. Und es starrte Siegfried an.
Aus der Fratze des Untiers, das langsam auf ihn zuschlich, wurde vor seinem geistigen Auge das Gesicht des Schmieds. Und aus dem Feuerauge wurde die Esse mit den glühenden Kohlen, die Reinholds eher grauen Zügen einen rötlichen Schimmer verliehen.
Siegfried hatte Reinhold getäuscht und betrogen, in mehrfacher Hinsicht. Er hatte sein Versprechen gebrochen, nicht nach dem Runenschwert zu suchen.
Der Mond brach durch die Wolken, und ein Gesicht tauchte auf den Wellen auf. Ein Gesicht, das ihm sehr vertraut war.
Das Gesicht seines Vaters!
Nur ein Spiel des geisterhaften Mondlichts auf den Wellen des Rheins? Oder wirklich Siegmunds Antlitz, wie Siegfried es trotz der verstrichenen Jahre gut erinnerte?
Die Lippen öffneten sich, aber Siegfried hörte keine Worte. Nur das Rauschen und Gurgeln des Stroms.
Er stand vom Felsen auf und lief zum Wasser, bis er mit den Füßen im Fluß stand. Doch eine tiefschwarze Wolke verschluckte den Mond, und das Gesicht verschwand in den Tiefen des Rheins.
Wenn die Rune Gebo Siegfried den Weg zum Runenschwert wies, konnte auch Siegmunds Gesicht keine andere Bedeutung gehabt haben. Von diesem Gedanken beseelt, konnte Siegfried nicht anders, als heimlich Graufell zu satteln und auf Schleichwegen aus der Schwertburg zu führen. Mit einem Pferd wie dem Grauen mußte es gelingen, im Schutz der Dunkelheit zur Wolfsburg und wieder zurück zu kommen.
Und damit hatte er noch ein Versprechen gebrochen: Er hatte Graufell, für den zu sorgen er versprochen hatte, in Gefahr gebracht. Zu drängend war sein Wunsch, mit dem Runenschwert das Erbe seines Vaters in Händen zu halten. Es war wenig genug, was ihm von Siegmund geblieben war.
Würde Sieglind nicht stolz sein, wenn sie ihren Sohn mit dem berühmten Schwert des verstorbenen Gemahls erblickte?
Und wäre es nicht ein Beweis, daß die Götter - welche auch immer - dem König vergeben hatten?
Wenn dem so war, würden die Götter nicht verhindern, daß Siegfried sich das Runenschwert holte. Er, Siegfried von Xanten, würde die Ehre seines Vaters wiederherstellen!
Das alles ging ihm durch den Kopf, während das Untier langsam näherschlich - ein schwarzes Wesen in finsterer Nacht. Das große rote Glutauge blickte bedrohlich.
Siegfried begann zu begreifen, daß er sich verrechnet hatte. Die schwarze Bestie durchkreuzte seine Pläne. Im besten Fall hielt sie ihn nur auf, im schlimmsten verhinderte sie seine Rückkehr - für immer.
Sie war jetzt nah genug, daß er ihre Umrisse deutlich erkennen konnte. Eine kräftige Gestalt, so groß wie ein Krieger, doch ging sie auf vier Beinen. Kleine, spitze Ohren saßen an einem breiten, gestreckten Kopf - und das eine schrägstehende Auge. Es saß an der linken Seite, wuchs zur langestreckten Schnauze hin. Rechts aber, wo ein zweites Auge hätte sein müssen, hing nur narbiges Gewebe unter dem dunklen Pelz. Niemals zuvor hatte Siegfried einen Wolf gesehen, der so schwarz war. Ein Wolf war es, ohne Zweifel, wenn auch größer und dunkler als alle anderen. Und einäugig.
Ein alter Einzelgänger? Oder ein kräftiger Leitwolf?
Siegfried vermochte es nicht zu sagen. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keine weiteren Tiere hinter dem Schwarzen erspähen. Aber er mochte darüber keine Beruhigung empfinden.
Und hinter Siegfried? Lauerten dort schon weitere Tiere, bereit, ihm in den Rücken zu fallen?
Er wagte nicht, sich umzudrehen, wollte dem Schwarzen durch seine Unaufmerksamkeit keine Blöße geben. Statt dessen versuchte er sich einzureden, daß der Einäugige allein war und daß Graufell ein warnendes Gewieher ausgestoßen hätte, hätten sich Wölfe auf dem Burghof gezeigt.