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Oder hatten sie den Hengst schon gerissen, so schnell und lautlos, wie auch der Schwarze aufgetaucht war?

Der Wolf ließ keinen Laut hören, kein Heulen, kein Knurren, kein Bellen. Geräuschlos wie ein Schatten glitt er auf Siegfried zu.

Ja, weiche zurück, Siegfried von Xanten! Meide den Kinderbaum, fliehe die Wolfsburg! Laß das Runenschwert unberührt!

Siegfried hörte die Stimme, ohne daß jemand sprach. Sie war plötzlich in seinem Kopf. Jetzt erst bemerkte er, daß er langsam zurückging, Schritt um Schritt, zurück zum Burghof, vom Kinderbaum fortgetrieben durch den einäugigen Schwarzen.

Die Stimme mußte eine Ausgeburt seiner Furcht sein. Aber er wollte sich nicht fürchten, wollte tapfer sein, wie es sich für einen Königssohn und einen zukünftigen Ritter ziemte. Also blieb er stehen, stemmte breitbeinig die Füße auf den Boden und legte die schweißnasse Hand um den Dolchgriff.

Fliehe die Wolfsburg, Siegfried von Xanten! Fürchte den Fluch der Götter!

»Nein!« stieß er laut hervor, um sich selbst Mut zu machen und die lautlose Stimme, die er seiner Angst zuschrieb, zu vertreiben. »Ich werde nicht fliehen. Ich will das Erbe meines Vaters, das Runenschwert!«

Er zog den Dolch und wünschte gleichzeitig, einen Speer mitgenommen zu haben. Es war leichtsinnig gewesen, nur mit dem Dolch bewaffnet zur Wolfsburg zu reiten. Handelte so ein Krieger?

Der Wolf blieb stehen, spannte seine Sehnen und Muskeln an. Sein gewaltiger, kräftiger Leib straffte sich. Die Spitzen der Ohren krümmten sich nach vorn. Die Schnauze zog sich zusammen und gab lange Zähne frei, scharf wie Reinholds beste Schwerter.

Siegfried hatte schon Wölfe gejagt und gegen sie gekämpft; er war vorbereitet, als der Schwarze sprang. Blitzschnell warf er sich nach vorn, unter den großen Tierleib hinweg. Geschickt rollte er sich über die linke Schulter ab, sprang wieder auf die Füße und wirbelte herum.

Doch der Wolf war schneller gewesen und setzte schon zum nächsten Sprung an. Wie ein von der Sehne gelassener Pfeil schnellte er durch die Luft.

Siegfried wollte zur Seite wegtauchen, doch diesmal war er nicht flink genug. Der Schwarze erwischte seine rechte Schulter und riß ihn zu Boden. Es war, als hätte Siegfried eine Kriegskeule getroffen. Vor seinen Augen drohte sich alles auslöschende Schwärze auszubreiten.

»Nein!« schrie Siegfried und zwang seine Sinne, ihm zu gehorchen. Die seltsame Stimme erklang wieder:

Lauf fort, Siegfried von Xanten! Verlaß diesen Ort und kehr niemals zurück!

Er wollte kein Feigling sein, keine Angst haben, nicht auf diese Stimme hören. Er wollte ein Mann sein, stark und tapfer, würdig des Stolzes seines Vaters, wäre dieser noch am Leben. Und er wollte das Runenschwert.

Als das große Glutauge dicht vor ihm leuchtete und der Wolf erneut das Maul aufriß, daß sein heißer Atem Siegfried umfing, stieß der Xantener zu. Er bohrte die Dolchklinge tief in die Flanke des Untiers.

Der verletzte Riesenleib zuckte, warmes Blut lief über Siegfrieds Hand und Arm, und endlich ließ der Schwarze seine Stimme hören. Er heulte auf, und sein Geifer tropfte brennend auf Siegfrieds Gesicht.

Siegfried handelte augenblicklich, als der Druck auf ihm etwas nachließ. Er zog die Beine an und rollte sich unter dem Wolf weg.

Das Untier reagierte schneller, als er gedacht hatte, und duckte sich zu einem neuen Sprung. Dabei entglitt der Dolchgriff Siegfrieds schweißnasser Hand.

Der Stahl steckte in der linken Seite des Schwarzen, und der Xantener war waffenlos!

Mit bloßen Händen wehrte er den nächsten Angriff ab. Er umklammerte Hals und Nacken des Schwarzen, der ihn erneut zu Boden warf.

Siegfried drückte mit aller Kraft zu, um der Bestie die Luft abzupressen, bevor ihre scharfen Fänge sein Gesicht und seinen Hals zerfetzten. Doch das Untier war stark und widerstand allen Bemühungen. Fingerbreit um Fingerbreit näherten sich die tödlichen Zähne, während Siegfrieds Muskeln mehr und mehr schmerzten. Nur mit äußerster Kraftanstrengung hielt er noch stand.

Ein kalter Windstoß wehte den heißen Wolfsatem hinweg. Das angestrengte, bedrohliche Knurren des Schwarzen verwandelte sich in ein wütendes Geheul, als er plötzlich von dem Menschen abließ und mit etwas rang, das ihn unversehens angefallen hatte.

Ein Helfer - hier?

Ächzend kam Siegfried auf die Knie und zog sich an einer bröckelnden Mauer auf die Füße. Sämtliche Glieder zitterten, Schultern und Arme schmerzten stärker als nach einem ganzen Tag am Amboß.

Der Schwarze und Siegfrieds so unerwartet aufgetauchter Helfer kämpften verbissen miteinander. Wütendes Knurren und heiseres Gekreische. Pelz und Federn flogen durch den dunklen Gang.

Federn?

Siegfrieds Retter war ein Vogel, ein großes Tier, fast so groß wie ein Mensch!

Das Gefieder war rötlich, nicht grauschwarz und weiß. Und trotz der seltsamen Farbe und der ungewöhnlichen Größe war es unzweifelhaft ein Falke. Wo auch immer der Falke herkam - er machte dem Wolf gehörig zu schaffen. Immer wieder rissen der gebogene Schnabel und die scharfen Krallen große Stücke aus dem struppigen Pelz. Doch der Einäugige wehrte sich, schlug die Fänge in den Falken, und zahlreiche Federn stoben auf.

Hilf mir, Siegfried! Nur gemeinsam können wir die schwarze Bestie besiegen!

Wieder eine lautlose Stimme. Aber eine andere, nicht düster und drohend. Voller Wärme, Zutrauen - und Angst.

Die Stimme des Falken!

Jetzt wußte Siegfried, daß vorhin nicht seine Furcht zu ihm gesprochen hatte, sondern der Wolf, das Untier.

Ja, der böse Wächter. Greif ein, Siegfried, töte ihn, und der Weg zum Runenschwert ist frei!

Siegfried warf sich nach vorn und griff nach dem Dolchknauf, dessen Silberbeschlag in der Finsternis funkelte. Er bekam ihn zu fassen, zog die blutige Klinge heraus und stieß sofort wieder zu, von unten in den Wolfshals.

Die Bestie jaulte und wand sich vor Schmerz. Der Falke verkrallte sich in dem bebenden Leib und hackte mit dem Schnabel nach dem Glutauge. Er traf mitten hinein, und das Auge floß aus. Das Untier war blind.

Siegfried nutzte diese Schwäche zum entscheidenden Stoß ins Herz des Wolfes. Er war wie im Rausch, besessen davon, die Bestie endgültig zu erledigen. Er hörte erst auf, mit dem Messer zuzustechen, als der Wolf sich schon längst nicht mehr bewegte.

Ein kalter Windstoß brachte ihn zur Besinnung. Es war der Falke, der von seinem Opfer abgelassen hatte und durch den finsteren Gang flog, zur Eichenhalle.

Komm, Siegfried, hol dir dein Erbe! Das Runenschwert!

Mit wackligen Beinen folgte Siegfried dem Vogel, der hinaus in die große Halle flog, um die mächtige Eiche herum, höher und höher stieg, bis ihn das breite Astwerk verdeckte.

»Bleib!« rief Siegfried. »Wer bist du?«

Er erhielt keine Antwort. Der Flügelschlag verklang, und es war, als hätte es den seltsamen Falken nie gegeben.

Etwas anderes beanspruchte Siegfrieds Aufmerksamkeit: das Runenschwert, das im Stamm des Kinderbaums steckte, so wie Reinhold es gesagt hatte.

Siegfried trat vor den Baum und streckte ganz langsam die Hände aus, berührte den vergoldeten Schwertgriff mit zitternden Fingern und umfaßte schließlich den Knauf.

Ein Gefühl der Wärme glitt durch seine Hände und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Seine Muskeln schmerzten nicht länger, jede Schwäche war verflogen. Er betrachtete die in die Klinge eingravierten, mit Gold ausgelegten Runen. Ihre magische Kraft mußte ihm diese Stärke verleihen.

Mit einem Blick hinauf zur Baumkrone sagte er: »Danke, Vater. Ich werde mich deines Erbes würdig erweisen!«

Und Siegfried von Xanten zog das Schwert heraus. Das halbe Runenschwert. Und die andere Hälfte, schwor er sich und seinem toten Vater, würde er sich auch noch holen!