Die Alarmglocke des Wachturms wurde geschlagen, um die Einwohner zu warnen, und Bürgermeister Enslin Rötha eilte mitsamt den Oberen zum Haupttor, um die Schwadron zu empfangen. Die Nachricht von der Ankunft hatte ihn während seines Mittagsschlafs überrascht, deswegen verbarg er seine unordentlich angelegte Kleidung unter dem geschlossenen Mantel aus grob gekämmter Schafwolle. Er legte wenig Wert auf Gehabe.
»Sie sind doch viel zu früh«, murmelte er und stellte sich vor das geschlossene Tor, um zu warten, bis die Ratsmitglieder versammelt waren.
Auf sein Winken hin wurde der Wagen mit den Zehntabgaben herbeigerollt und hinter ihm positioniert. Zum einen sahen die Zwerge auf den ersten Blick, dass sie ihre Steuern bekommen sollten, zum anderen verhinderte dies auf unauffällige Weise, dass die Schwadron so ohne Weiteres in die Stadt einreiten konnte.
Rötha schwitzte, obwohl es sehr kalt war. Die Winter hatten in den letzten Zyklen mehr an Kälte gewonnen. Er sah es als Zeichen dafür, wie schlecht es den Leuten des Geborgenen Landes ging. Wobei Hangenturm es als Protektorat des Zwergenstammes der Dritten noch gut getroffen hatte. Die Gebiete in Gauragar, in denen die Albae selbst herrschten oder die Regentschaft an machtgierige Menschen abgegeben hatten, waren weitaus schlimmer dran - wenn man den Nachrichten Glauben schenken durfte. Rötha hatte keinen Grund zum Zweifeln. Jede grausame Einzelheit entsprach sicherlich der Wirklichkeit.
An seiner Seite erschien Ratsfrau Tilda Küferstein, mit der ihn eine herzliche Freundschaft verband. Sie war groß wie er, die blonden Haare sahen unter ihrer Kappe hervor, und die grünen Augen wirkten besorgt. So besorgt wie seine. »Sie sind viel zu früh«, sagte sie mit einem Nicken in seine Richtung. Sie gürtete ihren Mantel aus weißem Bärenfell und stellte den Kragen auf.
»Meine Worte«, gab Rötha zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war Angst, reine Angst, die ihm das Wasser aus den Poren jagte. Ein Wunder, dass es an der Luft nicht zu Eis gefror.
Küfersteins Gesicht wurde noch besorgter. »Wir haben uns doch nichts zuschulden kommen lassen?«
Rötha schüttelte den braunen Schopf. »Nein. Seit ich Bürgermeister bin, erfüllen wir die Bestimmungen, die uns die Dritten auferlegt haben. Bis ins Kleinste.« Er hob den Arm, und das Tor wurde von den Wachen aufgeschoben. Kühler Wind wehte herein, fuhr durch die Schlitze in ihren Mänteln und brachte die Männer und Frauen zum Frösteln. Die Torflügel gaben ihnen den Blick frei. Die Schwadron der Dritten befand sich höchstens einhundert Schritt von ihnen entfernt. Und sie wurden an diesem Umlauf begleitet.
»Albae!«, entfuhr es Küferstein erschrocken. Die schwarzen Rüstungen der drei hochgewachsenen Reiter fielen umgeben vom reinen, weißen Schnee noch mehr auf. Jedes Mal, wenn der Huf eines Nachtmahrs auf den Boden traf, tanzten Flämmchen, und das Weiß verpuffte zischend.
Der Alb ganz links außen hielt eine lange Lanze in der Hand, an deren Ende ein Wimpel mit einer einzigen, merkwürdigen Rune im Wind flatterte. Das blutrote Zeichen machte Küferstein Angst, ohne dass sie wusste, wieso. Ein stoffgewordenes Grausen.
»Denkt Ihr, der Alarm wurde zum Spaß gegeben?« Rötha biss sich auf die Unterlippe. Die Anspannung machte ihn der Frau gegenüber ungerechterweise patzig. »Verzeiht...« Sie lächelte ihm zu. Ein schwaches, unsicheres Lächeln. »Es sei Euch verziehen, Bürgermeister.« Küferstein verfolgte, wie die restlichen sieben Ratsmitglieder Aufstellung nahmen und darauf achteten, hinter ihnen zu stehen. »Ich habe meinen letzten Alb vor...«, sie rechnete nach, »ich denke, vierzehn Zyklen zu Gesicht bekommen. Das war, als sie uns einen neuen Schwadronführer vorstellten.«
»Den Grund würde ich mir noch gefallen lassen«, grummelte Rötha und versuchte, den Dritten zu erkennen, der vorneweg ritt. »Ich fürchte aber, das ist nicht der Anlass des Besuchs«, meinte er nervös. »Ihr Anführer ist nach wie vor Hargorin Todbringer.« Die Gesichter der Albae sagten ihm nichts; sie waren hübsch, vollkommen, schmal, bartlos - und grausam. Wie alle ihrer Art.
Ihre Augenhöhlen schienen leer zu sein. Daran unterschied man die Albae von ihren freundlichen Verwandten, den Elben. Bei Tageslicht färbte sich das Augenweiß schwarz wie die finsterste Nacht. Das konnten sie nicht verbergen.
Er hob den Kopf und sah zu den Torwachen hinauf. »Keiner von euch wird seine Waffe gegen die Albae erheben«, rief er. »Oder gegen die Zwerge, ganz egal, was sie mit mir oder den anderen Räten anstellen.«
Die Krieger salutierten.
Küferstein, die immer noch erschrocken wirkte, musterte den Bürgermeister. »Ihr denkt, sie wollen uns Böses?«
»Es wären die ersten Albae, die Gutes brächten«, hielt er dagegen und schluckte. Umso mehr Schweiß von seiner Stirn und unter der Kleidung hinabrann, desto trockener fühlte sich seine Kehle an. »Sollen sie uns für eine Verfehlung zur Rechenschaft ziehen, wenn sie nur die Stadt und ihre Einwohner am Leben lassen.«
»Sehr edel. Doch manche würden Euch erwidern, dass man für die Freiheit kämpfen muss«, sagte die Rätin leise, weil der Anfang des Trosses dichter heran war. »Nicht wieder dieses Gerede!« Rötha starrte sie an. »Ihr kennt meine Meinung dazu. Wir würden gegen diese einhundertfünfzig Dritten niemals bestehen, und selbst wenn - was dann?« Er seufzte und beugte das Haupt vor den Herren Ost-Idosläns. »Sie würden die Nächsten schicken, und das würde Hangenturm nicht überleben. Diesen Preis ist die Freiheit nicht wert. Wer nicht dienen will, soll gehen oder sich umbringen und anderen die Entscheidung für den Heldentod nicht aufzwingen.« Küferstein biss die Zähne zusammen und verneigte sich ebenfalls vor den Dritten und den Albae, die vier Schritte vor ihnenihre Tiere zum Stehen brachten; somit verschwanden sie aus ihrem Blickfeld. Leder knarrte, das Zaumzeug klingelte, das Schnauben der Ponys erklang, und gelegentlich hörte man das Rasseln eines Kettenhemdes, die unter den schwarzen Fellen der Krieger verborgen lagen.
Aber niemand, weder die Albae noch Hargorin, sprach zu den Räten. Und solange das nicht geschehen war, durften sie die Köpfe nicht heben.
Rötha und Küferstein vernahmen, dass jemand aus dem Sattel sprang und schwer auf dem Boden landete. Schnee knirschte; dann näherten sich ihnen Schritte, die mit dem rhythmischen Klirren vom Metall einhergingen.
Der Bürgermeister sah eisenbeschlagene Stiefelspitzen, die Größe passte zu einem Dritten. Außerdem, sagte man sich, verursachten die Albae keine Geräusche beim Laufen und hinterließen keine Spuren. Eine von ihren vielen erschreckenden Künsten. Er schwitzte noch mehr; das Schweigen zehrte furchtbarer an seinen Nerven als jedes Geschrei und jede Vorhaltung, mochte sie noch so irrwitzig sein.
Schleifend wurde eine Waffe gezogen, dann surrte etwas durch die Luft. Rechts neben ihm gab es ein knirschendes Geräusch, gefolgt von einem erstickten Luftholen. Ein zweiter Schlag erklang, Blut spritzte vor ihm in den reinen weißen Schnee, dann fiel der Kopf von Rätin Küferstein zwischen seine Schuhe, und Rötha schrie vor Entsetzen und Bestürzung auf. Im gleichen Moment stürzte der enthauptete Körper der Frau der Länge nach nieder.
Er konnte sich nicht länger dagegen wehren, er musste aufschauen.
Hargorin Todbringer, ein Zwerg von stattlicher Größe und Achtung gebietendem Körperbau, hatte den Mantel zurückgeschlagen, damit er besser ausholen konnte. In der Rechten hielt er ein langstieliges Beil, an dessen Klinge Blut haftete. Sein mit Eisenplättchen verstärktes Kettenhemd hatte einige rote Spritzer abbekommen, auch das tätowierte Gesicht sowie der hellrote Bart mit den schwarzen Strähnen darin war getroffen worden.
Die roten Brauen zogen sich zusammen, als der Zwerg Rötha anblickte. »Wer hat dir erlaubt, die Augen zu heben?«, blaffte er ihn an. Der Bürgermeister öffnete den Mund, doch das Grauen lähmte seine Stimme. Er bemerkte, dass die Sättel der Nachtmahre leer waren, rings um die einstigen geschändeten Einhörner gab es keinerlei Fußspuren. Es stimmte also! Der Wimpel mit der grauenvollen und zugleich faszinierend schönen Rune stak in einer Halterung am Sattel.