Der Zwerg legte die rauchende Hand auf Sandas Brust, seine Augen richteten sich hasserfüllt auf die Maga. Mit der Linken berührte er eine Rune auf der Rüstung, und eine durchsichtige, dunkelgelbe Sphäre umschloss die beiden. Mit dem nächsten Blinzeln waren sie samt der Kugel aus Magie verschwunden!
»Vraccas, nein!«, flüsterte Goda entsetzt und rannte an die Stelle, wo sich der Magus eben noch befunden hatte. Das Blut ihrer Tochter, das Beil, ein Fetzen ihres Untergewands und verkohlte Stückchen, mehr gab es nicht mehr. »Wie hat er das gemacht?« Sie rannte den Gang weiter hinein, wieder zurück, in den Hauptgang, zum Schacht - nichts.
Fußschritte erklangen, und eine Abteilung Zwergenkrieger eilte die Treppen herab. »Herrin, was ist geschehen?«
»Sucht meine Tochter«, befahl sie zuerst stammelnd, dann erinnerte sie sich an die Worte. »Nein! Lauft hinunter zu den Fundamenten und seht im Schacht nach meinem Sohn Bandaäl! Los, los!«, schrie sie außer sich und stürzte die Treppe hinauf. Sie suchte dort, wo sie gefallen war, und entdeckte wenigstens einen der Splitter; den anderen fand sie auf die Schnelle nicht. Notfalls würde sie eine ganze Einheit der Soldaten nachforschen lassen.
Mit dem Diamantfragment hetzte sie bis nach ganz unten, wo die Krieger sich durch die Trümmer der Kabine wühlten. Die Wände waren größtenteils mit den Ketten verschmolzen, eine ungeheuere Hitze hatte den Stahl miteinander verschweißt, und obenauf lagen zwergengroße Bruchstücke aus den Schachtwänden.
»Lasst mich durch!« Ihre Stimme überschlug sich. Rasend vor Sorge wühlte sie im Schutt, verbrannte sich die Finger am heißen Metall und ließ dennoch nicht nach, bis sie eine blutverschmierte Hand erspähte. »Bandaäl!« Sie zerrte an den schweren Trümmern, die ihn unter sich begruben. Das geschmolzene Metall hatte ihn durch eine Fügung verfehlt.
Noch mehr Zwerge und Ubariu sprangen ihr bei, brachten Brecheisen, Speere und Seile mit.
Gemeinsam gelang es ihnen, eine Nische in das Gemisch aus Eisen und Stein zu schlagen, durch das Goda eine Kerze hineinschob und spähte. »Er lebt noch!«, weinte sie vor Erleichterung. »Ich sehe, wie er atmet!« Ein lautes Krachen kam von oben, Staub rieselte herab und kleinere Steinchen folgten. Der angeschlagene Schacht drohte in einem Abschnitt einzustürzen.
»Wir müssen hier weg, Herrin!« Ein Ubari ergriff ihre Schulter.
Doch sie funkelte ihn an. »Rühr mich nicht an! Wir müssen erst meinen Sohn befreien.« »Vorsicht, da unten!«, erschallte es über ihnen. »Die Stützen halten nicht länger!« Goda sah auf den Diamantsplitter. Ich habe keine Wahl. Er istfast ein Magus. Und mein Sohn. Sie schloss die Augen und sprach einen Zauber.
Wie von Geisterhand bewegt, hoben sich die Trümmerstücke eines nach dem anderem, kleine und große, schwere und leichte, bis Bandaäls Körper freigelegt war. Drei Zwerge zogen den schwer verletzten Famulus aus dem Schacht und brachten ihn eilends auf einer Bahre in Sicherheit. Auch Goda wich zurück, bevor sie den Zauber fallen ließ. Über ihnen grollte es, sodann brausten weitere Steinbrocken nieder, die sich auch nicht von den schwebenden Trümmern aufhalten ließen. Sie drückten sie nach unten oder zerschmetterten sie, rollten bis in den Gang vor die Füße der Zwerginnen und Zwerge. Eine gräulich Staubwolke folgte der eingestürzten Schachtwand und schoss den Gang entlang, in dem sie standen. Die Soldaten und die Maga wurden von Kopf bis Fuß mit einem schmutzig weißen Schleier überzogen.
Goda öffnete ihre Hand und ließ das Pulver, das einst ein Stückchen Diamant gewesen war, sich mit gewöhnlichem Staub vermengen. Beides besaß nun den gleichen Wert für sie. Dann lief sie hinter den Zwergen mit der Bahre her und wusste nicht, um wen sie sich zuerst sorgen sollte: Bandaäl oder Sanda?
Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Rän Ribastur, Nordwesten, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.
Coira schlug die Augen nieder. »Wenn Lot-Ionan nicht furchtbar durch Aiphatön und die Albae geschwächt worden ist, nicht«, flüsterte sie. »Ich habe zu den Göttern gebetet, dass sie uns unterwegs eine wilde, unentdeckte Quelle senden mögen! Vielleicht haben sie ein Einsehen und lassen ein anderes Wunder geschehen.« Rodario deutete heimlich auf Franek, der von Zwergen umringt war und sich mit Tungdil und Ingrimmsch unterhielt. Er sah eingeschüchtert aus und verteidigte sich mit halb erhobenen Händen gegen Anfeindungen. »Er könnte dieses Wunder sein.« Sie setzten sich, und er berichtete ihr, was der verstoßene Famulus ihm erzählt hatte. »Eben diesem Droman bin ich begegnet«, sagte sie und lehnte sich gegen Rodario, froh darüber, dass sich das Missverständnis zwischen ihnen aufgeklärt hatte. »Er jagte mir einen Betäubungszauber in den Rücken und zerrte mich auf die Lichtung, als er merkte, dass ich nicht allein war. Aber sie haben ihn besiegt.«
»Es ist schlecht für ihn ausgegangen, wie ich gehört habe.« Er legte tröstend einen Arm um ihre Schulter.
Coira nickte. »Das ist es.« Zwar genoss sie seine Nähe, aber ihre Augen suchten Mallenia, die sich eben neben die Zwerge begab. Sie hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil Rodario sich um sie bemühte. Weil sie um die Gefühle ihrer Freundin wusste. Er sollte die Wahrheit erfahren und von der Verlegenheit der Frauen wissen. »Rodario, ich möchte Euch etwas sagen«, setzte sie an, doch da drehte sich Tungdil um und winkte sie herüber.
»Vergesst es nicht«, sagte Rodario, »doch jetzt werden wir von unserem Anführer erwartet.« Er half ihr beim Aufstehen, und gemeinsam gingen sie am Lagerfeuer vorbei zu den Zwergen.
Tungdil machte ihnen Platz. »Franek tut es sehr leid, dass er vergessen hat, uns von dem Famulus zu berichten, der ihn verfolgt hatte«, eröffnete er.
»Es tut ihm so leid, dass er uns führen möchte«, fügte Ingrimmsch heiter an. »Nicht, dass wir dem angehenden Hexenmeisterlein hier blind vertrauen, doch wenn er uns in eine Falle lockt, stirbt er vor uns.« Er schlug Franek ins Kreuz. »Ho, das ist dir doch recht, was?« »Ja«, gab der Famulus hustend von sich. »Ich werde alles tun, um Lot-Ionan für seinen Verrat und seine Undankbarkeit mir gegenüber büßen zu lassen.« Er sah in die Runde. »Da ich weiß, dass Ihr keinem meiner Schwüre trauen würdet, versuche ich es erst gar nicht. Es sei Euch gesagt: Der Hass auf ihn verbindet uns. Das ist fester als alles andere.«
»Hass?« Rodario machte ein verwundertes Gesicht. »War unser Vorhaben...« »Auf meinen Ziehvater, dass er sich zu einem solch schlechten Menschen entwickelt hat und meiner Heimat so etwas antun konnte«, sagte Tungdil. »Ich habe ihm den Tod geschworen, erinnere dich, Schauspieler. Gegen euren Willen.«
Rodario schlug sich auf der Stelle an den Hinterkopf, weil er die Komödie bemerkte, die sie für den Famulus aufführten. »Es entfällt mir ständig, dass Ihr ihn unbedingt töten wollt«, rief er. »Wo Ihr doch allen Grund dazu habt.«
Franek ließ sich täuschen, oder zumindest zeigte er seine Zweifel nicht deutlich. »Und es bleibt dabei, dass ich Zugang zur Quelle erhalte?«
»Erst nach Coira, Zaubererlein«, betonte Ingrimmsch drohend. »Du wirst schön warten, bis du an der Reihe bist.«
»Das macht mir nichts. Sie besitzt genügend Energie für Tausende von uns.« Franek kratzte sich über das stoppelige Kinn. »Es wird ein gutes Gefühl sein. Nach so langer Zeit.«
»Leg dich schlafen. Wir brechen in aller Frühe auf.« Tungdil stellte einen Zhadär zur Wache ab, dann entfernte er sich mit Ingrimmsch, Rodario, Barskalin, Mallenia und Coira ein ganzes Stück vom Famulus und setzte sich auf einen Stein. »Ihn hat die Vorsehung gesandt.«
Mallenia faltete die Hände zusammen und suchte sich ebenso einen Platz zum Hinsetzen; einer nach dem anderen ließ sich nieder. »Ihr denkt nicht, dass es eine raffinierte Falle des Magus ist?«
»Nein. Er hat keine Ahnung, dass wir kommen«, widersprach Tungdil. »Wenn dem so wäre, hätte er uns all seine Famuli auf den Hals gehetzt anstelle des einen.« »Droman. So war doch sein Name?« Coira legte eine Hand auf den Rücken, wo sie der Zauber des Mannes getroffen hatte. Sie bildete sich ein, Wärme zu fühlen. »Er war nicht schlecht.«