Goda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und öffnete.
»Herrin, deine Tochter! Sie ist wieder da und wartet unten am Tor auf dich!«, rief der Soldat überschwänglich.
»Meine... Tochter?« Sie sah zum Tisch, wo das Kistchen mit den Fingern stand, dann rannte sie los. In ihrem Kopf rasten die Gedanken, wirbelten durcheinander, wurden von unbändiger Freude und heftiger Überraschung immer wieder überlagert. Und als sie endlich am Südtor angelangt war, stand sie vor - Sanda!
Sie trug noch immer ihr Kettenhemd, doch es hing lose und nachlässig geschnürt an ihr; das Gesicht war von Schlägen gezeichnet, der rechte Ärmel des Untergewands troff vor Blut, und die braunen Haare hingen schmutzig, fettig herab. Doch Sanda lächelte.
»Tochter!« Goda nahm sie in die Arme und drückte sie mit geschlossenen Augen an sich. So verharrten sie mehrere Lidschläge lang, bevor sie sich trennten. »Was hat er dir angetan?« Besorgt sah sie in die braunen Augen.
Sanda wich ihrem Blick aus, in den Pupillen flackerte es. »Geschlagen und gedemütigt. An einem Ort, wie ihn Tungdil beschrieb, als er von der Welt hinter der Schwarzen Schlucht sprach«, wisperte sie verstört und begann zu zittern. Sie schlang die Arme um sich. »Ich möchte niemals mehr dahin«, sagte sie laut und sah ihre Mutter an. »Eher sterbe ich.«
Goda wollte etwas sagen, dabei richteten sich die Augen auf den rechten Arm, um nach der Wunde zu sehen, und erkannten - eine gesunde Hand mit allen fünf Fingern! Sie vergaß, was sie hatte fragen wollen, und griff danach. »Wie ist das möglich, Sanda?« Die Gliedmaßen sahen rosa und zart aus wie die eines Neugeborenen. »Der, der viele Namen trägt, hat sie mir abgeschlagen«, berichtete sie mit brüchiger Stimme, »und ließ mir gleich neue Finger wachsen. Es tat fürchterlich weh, aber nicht so weh wie das, was ich sonst noch erlitt.« Sie sah auf die Hand. »Was ich sonst noch erlitt...«, wiederholte sie leise und wankte.
Goda stützte sie. »Wieso hat er dich gehen lassen?«
»Er hat mich nicht gehen lassen. Ich bin geflohen«, sagte Sanda, deren Knie einknickten. Rasch setzte Goda sie auf eine Bank und ließ Wasser bringen. »Ich bin geflohen und gerannt, Mutter. Gerannt, umhergeirrt und doch entkommen.« Sie sah wieder auf ihre Hand. »Rasch, gib mir ein Messer!«, schrie sie unvermittelt und hielt den Arm weit weg. »Das sind nicht meine Finger! Es sind seine! Er hat sie mir nachwachsen lassen! Sie gehorchen sicherlich seinem Willen!«
»Beruhige dich, Tochter!« Goda nahm sie in den Arm und wiegte sie, wie sie es mit ihr als Säugling getan hatte. »Du bist wieder bei uns.«
Sanda hustete. »Es sind seine Finger. Ich habe damit die Barriere berührt, und sie hat sich für mich geöffnet«, sagte sie abwesend. »Warum hätte es der Schirm sonst tun sollen?« Dann stieß sie einen langen, schrillen Schrei aus. »Das Böse ist ein Teil von mir!« Mit ungeahnter Kraft riss sie sich von ihrer Mutter los, zog einem verdutzten Torwächter das Beil aus dem Gürtel und schlug sich die nachgewachsenen Finger ab, bevor Goda ihr in den Arm fallen konnte. »Das ist besser!«, jubelte sie und trampelte auf den Gliedmaßen herum, während das Blut aus den Stümpfen sprudelte. »Vraccas, gib ihr den Verstand zurück!«, rief Goda entsetzt und hielt sie fest, die Torwachen halfen ihr dabei. Sie banden die Hand ab, damit Sanda nicht am Blutverlust starb und trugen die ohnmächtig gewordene Zwergin in ihre Kammer. Dort kümmerte sich die Mutter um sie, entkleidete und wusch sie.
Sandas Leib wies viele Folterspuren auf, die Goda Tränen des Zorns und des Hasses weinen ließen. »Dafür stirbt er mir einen ganzen Zyklus lang«, versprach sie ihrer Tochter. »Was er anderen gibt, wird er selbst zu kosten bekommen.« Sie trocknete die Arme der Schlafenden ab - und zögerte. Das Mal, das Sanda an der Innenseite des linken Oberarmes trug, war ihr niemals aufgefallen. Es war nagelgroß, rötlich und nicht das Resultat von Folter. Es sah gewachsen aus.
Unwillkürlich richtete Goda sich auf und betrachtete die Zwergin vor sich mit anderen Augen. Erste Zweifel, dass es ihre Tochter war, stiegen in ihr auf: Hatte der Feind ihnen ein Abbild gesandt, so wie er es mit Tungdil gehalten hatte?
»Vraccas, nimm mir meinen Argwohn«, bat sie verzweifelt. »Dieses Mal hatte sie schon immer, und ich bitte dich, gib mir die Erinnerung daran zurück.« Sie legte die Hände in den Schoß, das Handtuch zwischen den Fingern haltend, und ließ den Blick über ihre Tochter schweifen. Plötzlich entdeckte sie weitere Unstimmigkeiten: War das Kinn schon immer so rundlich gewesen? Waren die Wangenknochen nicht höher gewesen? Und die Nase, was war mit der Nase? Sogar der Schwung der Augenbrauen kam Goda falsch vor.
»Nein«, klagte sie. »Nein, das ist meine Tochter! Sie ist es.« Goda trocknete Sandas Schultern ab und deckte ein Laken über sie. »Sie ist es! Ich werde nicht auf die List des Feindes hereinfallen. Er schürt meinen Argwohn und sät Zwist.« Sie atmete tief ein. »Sie ist es.« Ein letzter Blick nach den Verbänden, und sie stand auf, um zu den Wachen zu gehen und sich erzählen zu lassen, was sich in der Ebene um die Schwarze Schlucht getan hatte.
Der Abschiedskuss auf die Stirn ihrer Tochter kostete sie Überwindung.
Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Sangrein, Südwesten, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.
Ingrimmsch erwachte und schlug die Augen auf. Über ihm leuchteten die Sterne, er hörte leises Schnarchen um sich herum und das Knirschen von Sand. Es rührte von Slins Stiefeln, der Vierte hatte Wache. Die beiden Zhadär, die ihn dabei unterstützten, verursachten keine Geräusche, wenn sie sich bewegten. Ansonsten war es in ihrem Lager ruhig.
Warum bin wach geworden? Ingrimmsch wunderte sich über sich selbst. Während er nachdachte, glaubte er, dass die Gestirne heller und heller wurden. Sonnengleich strahlten sie auf ihn herab, ohne zu wärmen. Was ist denn...? Er richtete sich auf. Es schien Tag geworden zu sein.
Die Umgebung lag klar und deutlich vor ihm, er sah sogar Slin, der neben einem Felsen stand und Zwergenwasser abschlug; dabei malte er seinen Namen in den Sand. Mit kurzen Namen ging das sehr gut, mit Ingrimmsch verhielt es sich bereits etwas umständlicher, vom kompletten Namen ganz zu schweigen. Dafür musste man viel trinken.
Er rieb sich die Augen, doch es war noch immer hell, obwohl die Sonne nicht aus ihrem Bett gestiegen war. Als er seine Finger betrachtete, sah er schwarze Flüssigkeit an den Zeigefingern! Sie stammte aus seinen - Augen?
Angst stieg in ihm auf. Was geht hier vor? Sind wir an einem verfluchten Ort? Er erhob sich, und Slin blickte sofort in seine Richtung. Ingrimmsch grüßte ihn mit einer Handbewegung und ging auf ihn zu, um ihn nach besonderen Beobachtungen zu fragen.
Er sah den Vierten deutlich vor sich, er sah jede Welle im weichen Boden unter sich, und er hörte die feinsten Geräusche, ja sogar das Rieseln des Sandes, den ein schwacher Wind umherwehte. Dabei wusste Ingrimmsch sehr genau, dass sein Gehör nicht das beste war. Der Lärm zahlreicher Schlachten hatte Tribut verlangt, hohe Töne nahm er kaum mehr wahr.
In dieser Nacht jedoch schon.
Nach zwei Schritten befiel ihn unglaublicher Durst, und zwar ein solcher Durst, dass er ihn nicht zu unterdrücken vermochte, bis er Slin befragt hatte. Also änderte er seinen Weg und marschierte hastig zurück an seinen Platz, wo sein Trinkschlauch lag.
Ingrimmsch trank und trank und trank, ohne dass sich der Durst löschen ließ. Das Wasser fachte ihn an, machte ihn schlimmer!
Außer Atem vom hastigen Trinken, warf er den leeren Schlauch weg und nahm sich Balyndars. Weil ihm zu wenig herauslief, schlitzt er das Leder auf und presste sich das Nass mit Macht in den Schlund, der heißer und heißer wurde.
Wütend warf er das leere Säckchen weg. Vraccas, was ist mit mir? Schon streckte er die Hände nach dem nächsten Trinkbeutel aus, der nicht ihm gehörte. Er hob ihn an und bekam einen schmerzhaften Stich ins Handgelenk.