Ein Skorpion hatte sich unter dem Beutel verborgen und sich mit seinem Giftstachel zur Wehr gesetzt. Ingrimmsch zertrat das Insekt und zog seinen Dolch, um die Wunde aufzuschneiden und das Gift herauszusaugen.
Doch er sah die Wunde gelblich leuchten! Um die Einstichstelle schimmerte es, Wärme lief seinen Arm hinauf, dann erlosch das Schauspiel.
Ingrimmsch setzte sich in den Sand. Habe ich mich eben selbst vom Gift geheilt? Oder war es ein Wunder, das mir Vraccas sandte?
Wieder flammte der Durst auf, um seine Kehle brennen zu lassen. Mit beiden Händen umklammerte er seinen Hals, als könne er es damit besser machen, dann stopfte er sich Sand in den Mund, um den Brand zu löschen, aber es wirkte nicht.
Schwindelnd sank er zur Seite, die Sterne drehten sich und tanzten über ihm. Dann kamen die Schmerzen.
Ingrimmsch kannte die Qualen von Verbrennungen, von Schwerthieben, von gebrochenen Knochen, von Pfeilschüssen, von ausgekugelten und verrenkten Gliedern, von Kopf- und Zahnschmerzen. Nahm er all das zusammen und verstärkte es zehnfach, erreichte er das, was er von einem Herzschlag auf den nächsten erlitt.
Seine Atmung setzte aus, er konnte sich nicht rühren. Sein Bewusstsein trieb zu den Gestirnen hinauf, er hatte das Gefühl zu schweben gleich einem Stückchen Blattgold in der warmen Luft der Esse. Bis er unvermittelt Blut in seinem Mund schmeckte und es abrupt wieder dunkel um ihn wurde.
Er blinzelte und sah die Sterne als winzige Punkte am schwarzen Firmament hängen; neben ihm saß ein Zhadär, der seine Trinkflasche wieder verstaute und den Zwerg anlächelte.
Der wahnsinnige Stänkerer. »Ausgerechnet du«, murmelte Ingrimmsch und spie aus. Er kannte den Geschmack noch sehr genau. Es handelte sich um das angeblich destillierte Elbenblut. »Hast du mir von diesem Tionszeug gegeben?«
Der Verrückte bleckte die Zähne und nickte heftig. »Das Einzige, das gegen den Durst hilft«, säuselte er wie ein Sänger ohne Männlichkeit. »Das Einzige! Ein Tröpfchen, und das Feuer in dir erlischt.« Er gluckste, machte »Seht« und legte den Zeigefinger an die schwarz gefärbten Lippen. »Wir dürfen es niemandem sagen, dass ich dir davon gegeben habe. Barskalin wäre sehr wütend auf mich. Wir haben nicht mehr viel davon, und es ist das Kostbarste, was wir besitzen.«
Ingrimmsch wartete, aber der Durst war wirklich verschwunden. Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, doch er hatte kein Wasser mehr, um die Körnchen hinauszuspülen.
»Es wird ein paar Umläufe lang halten, bis der Durst wiederkehrt«, raunte der Zhadär kichernd. »Hast du bemerkt, wie schön das Leben damit ist? Die verborgensten Geheimnisse erschließen sich, und man wird stark wie ein Riese!« Er stand auf und verbeugte sich übertrieben. »Ingrimmsch, Ingrimmsch. Bald bist du einer von uns. Ein bisschen einer von uns. Deine Seele hat sich schon eingefärbt und ist dabei, schwarz zu werden wie die unsrigen«, flötete er mit gespielter Kastratenstimme, um dann in tiefstem Bass hinzuzufügen: »Bald!« Leise lachend schritt er zurück zu den anderen Zhadär und legte sich auf seine Decke.
Ingrimmsch fand nicht mehr zurück in den Schlaf.
Er hatte deutlich vor Augen geführt bekommen, dass es sich bei der Flüssigkeit nicht um einen Kräuterlikör handelte, wie er zuerst gehofft hatte. Bis zu diesem Vorfall hatte er zudem vollkommen vergessen, dass er sich irrtümlich an der falschen Flasche bedient hatte. Doch was hatte das zu bedeuten, und warum, bei Vraccas, spürte er die Auswirkungen erst jetzt?
Alles Hin-und-her-Wälzen brachte nichts. Daher stand er auf und ging zu dem Zhadär. »Du«, weckte er ihn und schüttelte ihn an der Schulter. »Erkläre mir gefälligst, was mit mir geschieht!« Die Lider des Unsichtbaren hoben sich, gleichzeitig entstand ein Grinsen im Gesicht. »Komm mit.« Aus dem Liegen sprang er auf, packte den Zwerg am Ärmel und zerrte ihn zwischen die Felsen, wo die Gruppe Schutz gesucht hatte. »Niemand darf uns sehen«, wisperte er. »Denn es ist verboten, dass wir unsere Geheimnisse erzählen.« Er ging in die Hocke und zerrte Ingrimmsch mit nach unten. »Elbenblut, destilliert und...« »Das hast du mir alles schon gesagt... aber stimmt es auch, Freundchen?«, unterbrach ihn der Krieger ungehalten. »Was macht es denn mit mir, und warum färbt es meine Seele ein? Komme ich damit überhaupt noch zu Vraccas in die Ewige Schmiede?« »Vermutlich nicht alles von der Seele«, sagte der Zhadär bedauernd. »Vraccas wird dir den kranken Teil bestimmt ausbrennen und den Rest einziehen lassen. Wenn er dir gesonnen ist.«
»Hör zu... Hast du einen Namen?«
»Balodil«, sagte der Zhadär wie von der Sehne geschnellt.
»Unsinn. So hat sich der Gelehrte genannt, als er im Reich der unendlichen Schrecken bei den Scheusalen war.«
»Ich trug ihn vorher«, kam es beleidigt aus dem Mund des Unsichtbaren. Ingrimmschs Augen verengten sich. »So? Dann berichte mir doch mal, wer ihn dir gegeben hat!«
Balodil schwieg, schaute ernst und zeigte wortlos auf den schlafenden Tungdil. »Sicher«, stöhnte Ingrimmsch. »Vraccas, was denn noch? Ein wahnsinniger Zhadär, der glaubt, er sei der Sohn des Gelehrten?«
»Er hat mich ins Wasser fallen lassen, als wir den Fluss überquert haben«, sagte Balodil beleidigt. »Ich erinnere mich, dass mich eine Strömung unter Wasser drückte und ich nichts zu atmen bekam als Wasser. Irgendwann wurde ich wach. Bei Menschen. Sie haben mich gefüttert und ließen mich schuften, dann verkauften sie mich, aber ich rannte ihnen davon, als die Albae einmarschierten.« Er redete schnell und ohne eine Unterbrechung. »Ich rannte bis in die Höhlen von Toboribor. Da lebte ich viele, viele Zyklen. Einfach so. Von Umlauf zu Umlauf. Plünderte und raubte die Gehöfte in der Umgebung aus. Bis mich Barskalin fand und mich zu den Zhadär holte.« Er grinste, hob die Arme und ließ die Muskeln schwellen. »Ich bin der Stärkste von ihnen.« Balodil zeigte wieder auf Tungdil. »Er hat mich ins Wasser fallen lassen. Auch wenn er damals anders aussah. Ich habe ihn gleich wiedererkannt.« Ingrimmsch bekam den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Eine haarsträubende Geschichte, die so abwegig war, dass sie ebenso gut stimmen wie gelogen sein konnte. Hat Tungdil ihm vielleicht von seinem Sohn erzählt?
Er schüttelte innerlich den Kopf. Kaum jemand kannte das Schicksal von Tungdils und Balyndis erstem Sohn, über dessen Tod der Gelehrte beinahe am Suff gestorben wäre. Schon gar nicht nach so vielen Zyklen, in denen sich viele Dinge ereignet hatten und es andere Geschichten zum Erzählen gab.
Ingrimmsch sah Balodil an und versuchte, Ähnlichkeiten zu Tungdil oder Balyndis zu erkennen. Er entdeckte jedoch nichts und schimpfte mit sich selbst, weil er den Worten eines offenkundig verrückten Zhadär kurz Glauben geschenkt hatte. »Wie auch immer... Balodiclass="underline" Sage mir, was ich dagegen tun kann«, sprach er.
Der Zhadär sah wieder über die Schulter. »Du hast den Fluch der Elben auf dich geladen.«
»Du willst mir nicht wirklich weismachen, dass ihr das Blut der Spitzohren für diesen Sud genommen habt?«
»Doch. Wir haben die letzten Elben gefunden und gefangen...«
»Ich dachte, die Albae hätten die letzten Spitzohren getötet?«
»Nein, haben sie nicht. Nicht alle. Wir haben ihr Werk zu Ende gebracht. Bis auf zwei«, er hob drei Finger, »sind uns keine entkommen. Sie verfluchten uns und all diejenigen, die von unserem Trunk kosten. Wenn dich jemand erlösen und den Fleck von deiner Seele waschen kann, dann ist es einer von den beiden Elben.« Balodil lauschte. »Ich muss wieder zurück. Barskalin ist erwacht. Wenn ich zu lange weg bin, wird er vermuten, dass etwas nicht stimmt.« Seine Hände legten sich auf Ingrimmschs Schultern. »Schwöre, dass du mich nicht verraten wirst. Niemand darf wissen, dass wir zwei Elben verschont haben. Bis es sicher ist, dass die Albae vernichtet sind.« Der Griff war hart und schmerzte den Zwerg.