Ingrimmsch rieb sich über die Wangen, warf den schwarzen Zopf in den Nacken und stapfte los. Es war offensichtlich, dass er seine Entscheidung gefällt hatte. »Slin, du hältst vor der Tür Wache«, befahl er. »Wenn das Dach einstürzt, während wir drinnen sind, kommt du wenigstens lebend davon.«
»Das hört man doch gern«, erwiderte der Vierte strahlend. Er blieb unter dem Vordach stehen, Ingrimmsch und Balyndar betraten über verstreute Dolche, Messer und Beile hinweg den Raum.
Sie sahen auf den ersten Blick, dass sie in einer kleinen Schatzkammer gelandet waren - doch sie war bereits ausgeraubt worden. Vitrinenkästen und Schautruhen waren leer, das Glas zerschmettert. Nur die üblichen Waffen, wenn auch von guter Qualität, hingen in den Regalen und an den Wänden. »Wie schade«, meinte Balyndar und stieg über die Trümmer hinweg.
»Das, was auf dem Boden liegt, ist nicht zwergisch«, brummte Ingrimmsch und ging in die Hocke. »Fälschungen«, schnaubte er. »Die Räuber konnten zwischen Meisterhaftigkeit und Nachahmung offenbar sehr gut unterscheiden.« »Bei Vraccas!«, rief Balyndar aufgeregt, und Ingrimmsch eilte zu ihm. »Liest du, was ich lese?«
Der Krieger sah eine zerschlagene Glasvitrine, in der ein Samtkissen lag, und darunter war in der Sprache der Menschen mit sauberer Hand auf ein Stück Pergament geschrieben worden: »Die legendäre Feuerklinge - das Original«; daneben befand sich ein Büchlein und ein Zertifikat, in dem sich der Betreiber des Landes, ein gewisser Esuo Wopkat, verpflichtete, die Kaufsumme zurückzuzahlen, wenn sich die Waffe als Fälschung erwies.
Ingrimmsch lachte schallend. »Noch eine von ihnen.«
»Ich weiß, sie waren bei Andenkenhändlern sehr beliebt«, sprach Balyndar und griff in die Vitrine, um das Büchlein herauszunehmen. »Oh, hier steht die Geschichte des Fundes.«
»Nichts sagen«, rief Ingrimmsch mit kindlicher Begeisterung. »Mmh... sie wurde dieses Mal auf dem Gipfel der Drachenzunge gefunden! Oder, nein, in den Höhlen Toboribors? Halt... nein! In Lot-Ionans verlorenem Stollen!«
»Trifft alles nicht zu.« Balyndar räusperte sich und las vor:
»Werter Käufer, Sammler und Weiser, die Axt, die Ihr in den Händen haltet, ist aus dem reinsten, härtesten Stahl, die Widerhaken amanderen Ende sind aus Stein, der Griff aus Sigurdazienholz, die Intarsien und Runen aus allen edlen Metallen, die sich in den Bergen finden, gefertigt; die Schneide aber ist mit Diamanten besetzt.
Geschmiedet wurde sie in der heißesten Glut, die eine Esse zu entfachen vermag. Ihr Name ist Feuerklinge.
Vergesst die Berichte der Scharlatane.
Dieses ist die einzig wahre Waffe, gefunden auf dem ausgetrockneten Boden Weyurns und unter Lebensgefahr des Finders außer Landes geschmuggelt.
Der Fundort liegt in der Nähe des Loches, aus dem Lohasbrand stieg, und ich kann Euch leider nicht sagen, wie dies sich zutrug.
Der Sohn eines Fischers brachte die Axt zu mir, nachdem sein Vetter sie gefunden hatte. Er zeigtesie einem Zwerg, der den wahren Wert erkannte und den Mann erschlug. Auf der Flucht ertrank erjedoch beim Überqueren eines Flusses, Elrias Fluch und die Gerechtigkeit obsiegten. Der Fischer wollte mit der Axt nichts zu tun haben, weil er Übergriffe der Zwerge fürchtete, und so schickte er seinen Sohn zu mir. Ich machte ihm ein sehr gutes Angebot und erhielt die Feuerklinge. Ich weiß, dass es die legendäre Axt ist, mit der Tungdil Goldhand so viel Gutes für das Geborgene Land tat. Ich wollte sie für ihn aufbewahren, aber sie ist ohne ihn wertlos, und daher trenne ich mich von ihr. Gegen Geld.
Sollte er eines Umlaufs zurückkehren, gebt sie ihm. Ich bin sicher, er wird Euch gebührend entschädigen.
Euer Esuo Wopkat«
Ingrimmsch pfiff leise. »Das war mit Abstand die beste Geschichte. Jedenfalls, was den möglichen Wahrheitsgehalt anbelangt.« »Wieso?«
»Weil es so echt klingt. Wenn ich mich recht entsinne, hat der letzte Unauslöschliche die Feuerklinge mitgenommen und sie unterwegs weggeworfen.« Ingrimmsch strahlte. »Gegen Zwerge hilft ein See immer noch am besten. Das wird er sich gedacht haben, als wir ihn verfolgten. Also hat er die Axt in den See geschmissen, bevor er in den Schacht stieg.«
»Du glaubst es nicht, oder? Nicht wirklich?« Balyndar klappte das Büchlein zu und warf es in die zerstörte Vitrine. »Abgesehen davon: Sie ist gestohlen worden. Sie kann überall sein.«
»Heda!«, machte Slin vom Eingang des Ladens und hielt eine staubige Axt in der Hand. »Seht euch mal an, was ich im Dreck gefunden habe. Direkt vor meinen Stiefelspitzen.« Ingrimmsch und Balyndar schauten sich an.
Der Vierte blies darüber. »Ich weiß zwar nicht genau, was das für eine Axt ist, aber sobald ich den Schmutz abgewaschen habe, werde ich es sehen.« Er sah auf die Schneide. »Hat da jemand Diamanten eingesetzt? Wer macht denn...« Ihm fiel auf, dass die beiden Zwerge schwiegen, dann verstummte er selbst und schluckte.
»Bei Vraccas!«, krächzte er ehrfürchtig und kniete sich hin, legte die Axt vor sich auf den Boden und betrachtete sie.
»Bei Vraccas«, sagten Balyndar und Ingrimmsch gleichzeitig und kamen zum Eingang, gingen in die Hocke und sahen ebenfalls auf die Waffe.
Ingrimmsch nahm den Wasserschlauch vom Gürtel und goss Wasser über den Axtkopf, um die Feinheiten freizuspülen. »Ich...« Seine Stimme versagte.
»Entzückend!« Slin vernahm ein leises Klirren hinter den zwei Zwergen und hob die Armbrust. Er sah, wie ein Dolch im Schrank nach vorne rutschte, aus dem Regal fiel und auf die Theke prallte. Gerade wollte er aufatmen, da bemerkte er, wie sich ein Schwert aus seiner Halterung löste und in senkrechtem Flug zur Theke schwebte. »Hier geht Merkwürdiges vor«, sagte er zu seinen Begleitern, die damit beschäftigt waren, die Intarsien und Runen mit Wasser aus den Trinkschläuchen freizulegen. »Wir sollten die anderen warnen.«
»Erschieß die Maus, wenn du dich vor ihr fürchtest«, meinte Balyndar knapp, der die Geräusche vernahm, aber falsch deutete.
»Bevor sie durch einen von Franeks Zaubern zu Rindviehgröße anwächst«, vollendete Ingrimmsch und wusch mit den Fingern über den Axtkopf. »Ich werde verrückt!« Slin war aufgesprungen und wollte nicht glauben, was er sah: Schilder, Lanzen, Dolche, Schwerter und weitere Waffen flogen aus allen Winkeln des Ladens herbei und fügten sich in rasender Geschwindigkeit zu einem menschenähnlichen Scheusal. Es reichte bis an die Decke, und dort, wo Hände saßen, standen Schwerter und Lanzen hervor. Eine tödliche Schöpfung, geboren aus Magie.
»Ganz entzückend! Ich glaube, die Maga hat nicht den richtigen Entdeckungszauber angewendet«, sagte er hastig.
»Also doch eine Riesenmaus?«, spottete der Fünfte.
»Dreht euch gefälligst um, ihr Schwachköpfe!«, schnauzte Slin die Zwerge an und legte die Armbrust auf die Kreatur an - obwohl er wusste, dass es nichts brachte. Franek hatte gesagt, dass nur Magie solche Geschöpfe bezwang.
»Vorsicht, Gemmenschneider«, warnte ihn Balyndar. »Nur, weil ich mit dir reise, bedeutet es nicht, dass ich dich mag und dir solche Schimpfworte durchgehen lasse!« Ingrimmsch wollte sich vom Anblick der Axt losreißen - da erhob sie sich und wirbelte an ihnen vorbei; gleich darauf zerrteihm eine unsichtbare Macht den Krähenschnabel aus der Hand, und Balyndar verlor seinen Morgenstern. »Was...«
Jetzt blickten sie sich um und sahen ihren Feind, dem sie waffenlos gegenüberstanden. Das Geschöpf hatte aus Dolchen und Messern am rechten Arm eine übergroße Hand geformt; damit hielt es die Feuerklinge nach oben und den Krähenschnabel in Verlängerung des Axtstiels nach unten. Scheppernd und klirrend machte es einen Schritt auf das Trio zu.
Ingrimmsch wurde sich bewusst, woher die Spuren auf den Platten auf dem Platz des Schmuckmarktes stammten und wer die Leichen ausgebeint hatte. Er packte Balyndar am Ärmel und zog ihn auf die Beine, dann gingen sie langsam rückwärts. »Wieso hast du uns nicht gewarnt, Vierter?«, knurrte der Fünfte.