Vor Coira drehte sich und schwankte der Boden. Sie hielt sichan Rodario fest und wollte noch etwas sagen, dann verließen sie die Kräfte; er schulterte sie und lief weiter.
Vor ihnen erschien die Wüste, mehr als vierzig Schritt bis zum Ausgang aus der Siedlung waren es nicht mehr.
»Gleich sind wir entkommen«, freute sich Ingrimmsch. »Da kann unsere Maga auch gerne weiterschlafen! Ho, das hätte mir...«
Ein alter Bekannter in neuer Gestalt schob sich ihnen in den Weg. Messer, Schilde, Schwerter und Spieße hatten sich zu einer vier Schritt hohen Gestalt formiert, die auf drei Beinen lief und einen gedrungenen Leib besaß. Die vier Arme ragten der Gruppe mehrere Schritt weit entgegen, und an ihren Enden drehten und rotierten die Klingen so schnell, dass sie nichts weiter waren als metallisches Schimmern. Sie pfiffen und summten laut, der Wind peitschte den Staub auf der Straße auf.
»Keine Zeit, die Maga zu wecken!«, befahl Tungdil und deutete auf die nächste Gasse. »Verteilt euch. Wir müssen an dem Biest vorbei. Sobald wir in der Wüste sind, geschieht uns nichts mehr.«
»Achtet auf eure Waffen«, rief Ingrimmsch als Warnung hinterher und umklammerte den Krähenschnabel so fest er nur konnte. »Du haust mir nicht mehr ab. Und wenn doch, nimmst du mich mit, und wir zerlegen dieses Magieungeheuer.« Die Flucht begann.
Die Gruppe sprengte auseinander, jeder suchte sich einen Weg am Feind vorbei. Ingrimmsch, Slin und Balyndar hatten beschlossen, Rodario zu begleiten. Sie trauten dem Schauspieler trotz aller Heldenhaftigkeit nicht zu, die ohnmächtige Frau schnell genug tragen zu können, um unbeschadet an dem tödlichen Wesen vorbeizugelangen. Ingrimmsch sah nach dem Feind, der sich die einfacheren Ziele ausgesucht hatte. Die wirbelnden Schneiden schnitten zwei Zhadär in kleine Fetzen. Dass etliche Klingen dabei zersprangen und Schäfte an den Rüstungen abbrachen, störte die künstliche Kreatur nicht weiter. Die einzelnen Teile wurden abgestoßen und durch neue Waffen aus dem Arsenal ersetzt; die Innereien und Fleischbrocken der Getöteten flogen schrittweit durch die Gegend.
»Lasst euch bloß nicht von dem Viech erwischen«, sagte er gehetzt zu seinen Begleitern. Sie erreichten die rettende Wüste.
Rodario hielt erst an, als er zwanzig weitere Schritte in dentiefen Sand hineingemacht hatte und ihm die Kraft ausging. Er sank auf die Knie und ließ Coira zu Boden gleiten, dann wandte er sich um und sah zur Stadt. Er und die drei Zwerge beobachteten machtlos, wie das Klingenungeheuer unablässig seine Form änderte, um in die kleinsten Sträßchen zu gelangen, und sich einen Zhadär nach dem anderen schnappte. Die Unsichtbaren schienen das bevorzugte Opfer zu sein. Während nach und nach Tungdil, Franek und Mallenia aus verschiedenen Gassen gelaufen kamen und zu ihnen stießen, warteten sie auf Barskalin und seine Truppe vergebens. Als hätte die Eisenkreatur nicht ausgereicht, stapfte ein hausgroßes Wesen aus Sand die Hauptstraße entlang.
»Der Stänkerer«, rief Ingrimmsch und deutete nach links, wo drei Zhadär aus einem Hof gelaufen kamen und sie bald darauf erreichten.
Mehr aber wurden es nicht.
Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, Festung Übeldamm, 6492. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
Goda saß in ihrer Kammer und sortierte die neuesten Nachrichten, welche sie aus dem Geborgenen Land erhalten hatte. Müsste sie deren Inhalte in kurzen Worten zusammenfassen, würde sie sagen: Überall verlief es besser als bei ihnen. Verhaltene Aufstände waren gegen die Lohasbrander in Weyurn und Tabain losgebrochen, bis die Menschen bemerkten, dass sich weder ein Drache noch weitere Orks zur Verstärkung blicken ließen. Niemand hielt den Sturm mehr auf, den die Truppe aus Rodarios Nachfahren entfesselt hatte.
Zwar gab es Tote und Verletzte, aber die Menschen aus den unterdrückten Gebieten hatten die Schweineschnauzen ins Rote Gebirge zurückgeschlagen. Die Lohasbrander und deren Vasallen wurden nach kurzen Gerichtssitzungen meistens hingerichtet. Goda fand es erstaunlich, dass sich die Befreiten nach zweihundert Zyklen noch die Mühe machten und Gerichte zur Bestrafung einberiefen. Das Rote Gebirge befand sich wieder in der Hand der Kinder des Schmieds. Denn von dort war die nächste Botschaft gekommen: Xamtor, der sich als König der Ersten bezeichnete, meldete sich und ließ sie wissen, dass die Orks, die ihr Heil in der Flucht vor den Menschen Weyurns und Tabains gesucht hatten, vernichtet worden seien. Goda nahm eine Karte des Geborgenen Landes zur Hand und berührte den Westen des Reiches. Die Ketten dort waren gesprengt. »Vraccas, nimm deinen Schutz jetzt nicht von uns«, bat sie und rief »Herein!«, als gegen ihre Tür geklopft wurde. Kiras trat ein. Sie trug ein Stirnband, um die Brandwunde auf ihrer Haut zu verbergen. »Du hast mich suchen lassen?«
»Ja.« Sie schob ihr einen Stuhl hin. »Was machen meine verletzten Kinder? Du warst sicherlich eben bei ihnen.«
Die Untergründige setzte sich zur Maga. »Aber... die Sitzwache sagte mir, dass du heute Morgen erst nach ihnen gesehen hast.«
»Das war heute Morgen.«
Kiras legte ihre Hand auf Godas. »Es geht deinem Sohn schon besser, und Sandas Verstand erholt sich weiter von den Grausamkeiten, die man ihr angetan hat. Bald wird sie die Alte sein. Bis auf ihre Finger, die sie sich in ihrer anfänglichen Umnachtung abtrennte.«
Beide wussten, dass es niemals mehr so sein würde.
»Es gibt Neuigkeiten. Gute Neuigkeiten.« Goda reichte ihr die Briefe und öffnete einen weiteren; schnell überflog sie die Zeilen. »Oh, gut. Das Feuer der Freiheit hat die Grenze übersprungen und Gauragar erreicht. Die Dritten haben ihre Garnisonen verlassen und sich ins Schwarze Gebirge zurückgezogen, um nicht gegen die Menschen kämpfen zu müssen. Den Berichten nach«, sie gab das Schreiben an Kiras, »sind die Süd-Albae bereits kurz vor der Festung Ogertod.«
»Was uns fehlt, ist eine Nachricht von Ingrimmsch.«
»Ja. Und das beunruhigt mich sehr.« Goda lauschte in sich hinein, um zu erfühlen, ob ihr Gefährte tot oder lebendig war. Da sie keinerlei Anzeichen für etwas Schlechtes spürte, ging sie davon aus, dass er und die Gruppe sich unbeirrbar ihrem Ziel näherten: Lot-Ionan. »Doch ich weiß, dass sie siegen werden.«
»Dann ist es ja gut. Wir brauchen die Hilfe eines Magus...« Sie sah zu Goda.
Die Zwergin probierte sich an einem Lächeln. »Ich weiß, wie du es meinst.« Kiras erwiderte die Freundlichkeit. »Die Wachen melden, dass unter der Barriere alles ruhig geblieben ist. Die Scheusale haben nicht versucht, neue Lager zu errichten. Anscheinend hat ihnen der Angriff auf das Nordtor eine derart blutige Schnauze verpasst, dass sie sich zurückgezogen haben, um ihre Wunden zu lecken.« Goda war erleichtert. Sie besaß lediglich einen Diamantsplitter - denjenigen, den sie im Treppenhaus beim Sturz verloren hatte. Doch sie fand ihn nicht mehr, und das trotz der Heerschar von Suchenden, die auf Knien hoch und runter gekrochen waren. Niemand wusste von der misslichen Lage in Sachen magisches Reservoir. »Ich frage mich, wie stark ich den Zwerg verwundet habe. Mag das der Grund sein, weswegen sie sich mit Angriffen zurückhalten?«
»Er hat gesehen, welche Macht du besitzt. Er wird angenommen haben, leichtes Spiel mit der Verteidigung zu haben. Jetzt weiß er es besser.« Die Untergründige rückte am Stirntuch herum, bis es so saß, wie sie es wollte.
Goda schaute auf ihren kahlen Kopf. »Schmerzen?«
»Nein. Nur ein heißes Gefühl und ein Druck, der von der Wunde ausgeht«, schwächte Kiras ab. »Was mir zu schaffen macht, ist der Gedanke, dass ich ein Symbol mit mir herumtrage, von dem ich nicht weiß, was es bedeutet.« Sie sah die Maga an. »Deswegen werde ich später zum Heiler gehen und es mir zerschneiden lassen. Am Ende hat mir der Zwerg etwas eingebrannt, mit dem er Besitz von mir ergreifen kann. Das lasse ich nicht zu.«