»Wir stehen also vor unserem ersten Ziel und können nicht hinein«, sagte Balyndar ungehalten.
»Entdeckt uns der Magus jetzt, haben wir noch weniger Aussichten, ihn zu bezwingen.«
»Du und Tungdil würden als Einzige überleben«, schätzte Ingrimmsch. »Ihr seid vor magischen Attacken sicher.«
Tungdil schürzte die Lippen und hob Blutdürster. »Balyndar hat recht. Wir gehen hinein und lassen Königin Coira in die Quelle steigen, ich und Balyndar passen auf, dass Lot-Ionan uns nicht überraschen kann.« Er sah die Maga an. »Wie lange benötigt Ihr, um ausreichend Energie aufzunehmen?«
»Das hängt von der Quelle ab«, sagte sie unsicher.
»Diese hier ist sehr stark«, merkte Franek an. »Ich brauchte nicht länger als eine einige Augenblicke, um mich aufzuladen.«
»So lange halten wir gegen ihn durch«, sprach der Fünfte entschlossen und nickte Tungdil zu. Der Einäugige warf sich daraufhin mit der Schulter gegen die Tür. Ein lautes Zischen erklang, als sämtliche Runen um den Eingang aufflammten und Tungdil mit einem Blitzschauer bedachten; doch die Tioniumrüstung absorbierte den Spruch, als wären es harmlose Lichtstrahlen. Das Holz zerbrach, teils riss die Tür aus den Angeln, teils schwang sie auf.
Tungdil stand mit erhobener Waffe im dahinterliegenden Raum und sicherte nach allen Richtungen. »Hier ist niemand«, rief er über die Schulter.
Sie eilten zu ihm, Balyndar blieb am Durchgang stehen, das Gesicht zum Gang gewandt und die Feuerklinge in beiden Fäusten haltend.
Es war mehr eine kleine Kammer, die an ein Schwitzbad erinnerte. Stufen führten zu einem senkrechten Schacht hinab, der vergittert war; die Wände waren mit Mosaiken verziert, die Lot-Ionans Gesicht zeigten.
Der Magus hat sich schon verändert, fand Ingrimmsch. Im Gegensatz zu früher hatte er eine Glatze und drei silber-rötliche Bartsträhnen am Kinn, auch die Augenbrauen wirkten buschig undsehr hoch geschwungen. Die Züge waren dämonischer, grausamer geworden, als hätten sich die Knochen verformt und neu angeordnet. Doch es war unzweifelhaft der Ziehvater des Gelehrten.
»Sie muss sich auf den Schacht stellen«, sagte Franek. »Der Gitterboden wird dann durch ihr Gewicht fünf Schritt in die Tiefe sinken und sie genau ins Feld bringen. Mithilfe eines Zaubers muss sich die Königin wieder nach oben schweben lassen.« Slin war neben Balyndar an der Tür stehen geblieben. »Warum hat man die Stufen nicht bis zur Quelle geführt?«
»Lot-Ionan wollte es so. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat.« Er sah das misstrauische Gesicht von Ingrimmsch. »Lasst mich halt zuerst gehen, wenn ihr eine Falle befürchtet.«
»Das hättest du wohl gern!« Ingrimmsch lachte. »Gelehrter, was machen wir?« Tungdil winkte Coira zum Schacht. »Wenn ihr etwas zustößt, tötest du Franek«, lautete seine einfache Anweisung.
»Das ist leicht. Das kann ich«, gab er zurück.
Die Königin wurde von Rodario und Mallenia die Treppe hinab zum Gitter gebracht, und als sie ihre Hände von den Nacken ihrer Begleiter nahm, senkte sich der Boden wie vorhergesagt mit leisem Klicken nach unten.
»Auf das Ausziehen verzichte ich heute«, sagte sie zum Abschied. »Es wird andere Gelegenheiten für Euch geben, mich ohne Kleidung zu bewundern.«
»Es hört sich so an, als werde etwas gespannt«, meinte Slin, der aufmerksam auf die Geräusche der Mechanik lauschte.
»Achtet auf Euch!«, rief Rodario besorgt in den Schacht, dann blickte er Mallenia an. »Es gefällt mir nicht, dass wir nichts haben, um sie notfalls herauszuziehen.« Die Ido zog ihren Gürtel aus und verlangte den des Schauspielers. Schnell verband sie die beiden miteinander und prüfte die Festigkeit des Knotens. »Wenn Coira springt, wird sie bis zum Gürtel hinaufreichen, und wir können sie dann hochziehen.« Sie ging neben dem Loch auf die Knie und schaute hinab. »Es ist finster wie in einem Grab«, sagte sie leise.
»Kein schöner Vergleich.« Rodario kniete sich hin. Noch immer klickte es, die Fahrt abwärts war nicht zu Ende. »Geht es bald los?«, fragte er ungeduldig.
Ein blasses Schimmern um die Maga verriet, dass die magische Quelle ihre Kraft an die Frau abgab. Sie warteten schweigend. Die Anspannung in der Kammer brachte alle zum Schwitzen, lediglich Tungdil schien die Ruhe selbst zu sein, als besäße er das geheime Wissen, dass sie lebend aus dem Blauen Gebirge gelangten und Lot-Ionan ihren Gefangenen nennen durften.
Ingrimmsch sah zwischen den Menschen und der Tür hin und her, ab und zu rieb er sich die Hände am Untergewand ab. »Wie ich es hasse«, grummelte er vor sich hin. »Oh, wie ich es hasse. Lieber kämpfe ich einen Umlauf lang.«
Im Gang zur Quelle blieb es ruhig. Keine Geräusche, keine Schreie und kein Lot-Ionan. »Wohin müssen wir, um ihn zu finden?«, verlangte Tungdil von Franek zu wissen. Der Famulus zuckte mit den Achseln. »Er kann überall sein, doch ich denke, er ist nicht weit von uns entfernt. Es wundert mich, dass er nicht auftaucht, um nach dem Rechten...«
»Still!«, befahl Balyndar. »Es kommt jemand!«
Rodario sah, dass sich Coira in dem Schimmern wand, als leide sie immense Schmerzen. Sie krümmte sich zusammen, hielt sich an den Wänden fest, wankte und stöhnte leise. So hatte er den Prozess von Seenstolz her nicht in Erinnerung. »Coira, wie ergeht es Euch?«
Die Königin gab keine Antwort.
»Wir holen sie raus«, entschied er und ließ das verknotete lange Lederband hinabhängen. »Greift zu!«
Ingrimmsch stellte sich hinter Balyndar und Tungdil, achtete darauf, ihre Rüstungen nicht unmittelbar zu berühren, und spähte zwischen ihnen hindurch.
Eine junge Frau in einem eng anliegenden dunkelblauen Kleid hetzte auf die Kammer zu, die langen dunkelbraunen Haare wehten hinter ihr her.
Sie schaute verängstigt über die Schulter und hatte die Zwerge, die im Eingang standen, noch nicht bemerkt; aus ihrer rechten Schulter ragte ein schwarzer Pfeil. Ein Gruß der albischen Bogenschützen.
»Die kleine Zauberin ist verletzt. Gut!«, murmelte Boindil. Demnach hat sie ihre Magie beimersten Aufeinandertreffen aufgebraucht und benötigt dringend eine Auffrischung ihrer Kräfte. Damit war sie ein leichtes Opfer. ›Lasst sie mir?‹, fragte er Tungdil und Balyndar bettelnd. Jetzt hatte Bumina sie gesehen, und sie blieb sofort stehen. »Zwerge? Wie, bei Samusin, seid ihr denn hereingekommen?«
Franek begab sich hinter die Zwerge, sodass die Famula ihn erkennen musste. »Damit hast du wohl nicht gerechnet«, sagte er schadenfroh und setzte ein boshaftes Lachen hinterher. »Oh, haben dir die Albae wehgetan?« Er zog seinen Dolch. »Das wird nichts im Vergleich zu dem sein, was ich mit dir anstellen werde! Du hast meine Stadt vernichtet! Die Falle trug deine Handschrift.«
»Auf Geheiß von Lot-Ionan.« Bumina musterte die Zwerge und versuchte abzuschätzen, was sie erwartete. Sie hob die Arme. »Geht zur Seite und lasst mich zur Quelle!«
Tungdil und Balyndar hoben gleichzeitig ihre Waffen.
Rodario rief wieder in den Schacht hinab, doch Coira antwortete nicht. Mit einem Fluch sprang er in die enge Röhre, lenkte seinen Sturz so gut es ging mit Schuhen und Händen an den Wänden und kam neben der kauernden Maga auf; auch er wurde vom weißlichen Leuchten erfasst, doch er spürte nichts.
»Was ist?«, sagte er und half ihr beim Aufstehen.
»Sie ist unglaublich... mächtig«, ächzte Coira. »Das bin ich nicht gewohnt, und es... schmerzt mich! Sie pumpt Kraft in mich, wie ich sie nicht kannte.« Ihr nächster Satz erstickte in einem Stöhnen, ihre Finger schlugen sich in Rodarios Kragen und krallten sich fest. »Ich kann mich nicht auf einen Zauber konzentrieren, um ihr zu entkommen«, stammelte sie. »Helft...« Ihr Leib versteifte sich und verbog sich widernatürlich unter den Krämpfen, welche sie ohne Unterlass schüttelten.
Rodario nahm ihren Gürtel und ließ sich von Mallenia das behelfsmäßige Seil hinabwerfen. Rasch verband er die Gürtel miteinander, verknotete Coiras Hände und schleuderte das andere Ende zurück aus dem Schacht. »Zieht sie hoch!«, schrie er nach oben und ging in die Hocke, um die Maga auf seine Schultern zu stemmen. »Ich gebe von unten Halt!«